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Die Transzendentalen Spiele Sri Krishnas

Von A.C. Bhaktivedanta Swami Prabhupada
Die Transzendentalen Spiele Sri Krishnas
Kṛṣṇa - Der Höchste Persönliche Gott
Originale Version 1. Auflage 1974
88. Kapitel:
 
Krishna
 
Die Rettung Śivas


 

Als reiner Geweihter Śrī Kṛṣṇas war König Parīkṣit bereits befreit, doch weil er einige Dinge klären wollte, stellte er Śukadeva Gosvāmī vielerlei Fragen. Im vorangegangenen Kapitel hatte König Parīkṣit gefragt: »Was ist das endgültige Ziel der Veden?« Und Śukadeva erklärte es ihm, indem er die autoritativen Darlegungen der Schülernachfolge vortrug, die mit Sanandana begann und über Nārāyaṇa Ṛṣi, Nārada und Vyāsadeva bis zu ihm selbst herabreichte. Die Schlußfolgerung lautete, daß hingebungsvolles Dienen oder bhakti das endgültige Ziel der Veden ist. Ein neuer Gottgeweihter könnte nun fragen: »Wenn es das endgültige Ziel oder die Schlußfolgerung der Veden ist, daß man die Ebene des hingebungsvollen Dienens erreicht, wie kommt es dann, daß ein Geweihter Śrī Viṣṇus meist materiell nicht besonders wohlhabend ist, wohingegen ein Geweihter Śivas in der Regel ziemlich reich ist? Um diesen Punkt zu klären, fragte auch Mahārāja Parīkṣit Śukadeva Gosvāmī: »Mein lieber Śukadeva Gosvāmī, für gewöhnlich kann man beobachten, daß diejenigen, die Śiva verehren, seien es Menschen, Dämonen oder Halbgötter, materiell sehr wohlhabend sind, obwohl Śiva selbst wie ein Bedürftiger lebt. Die Geweihten Viṣṇus, des Herrn der Glücksgöttin, dagegen, scheinen nie sehr begütert zu sein. Manchmal sieht man sogar einige von ihnen völlig besitzlos leben. Śiva lebt unter einem Baum oder im Schnee des Himalaya. Er baut sich nicht einmal ein Haus, und dennoch sind die Verehrer Śivas meist sehr reich. Kṛṣṇa oder Viṣṇu dagegen lebt sowohl in Vaikuṇṭha als auch in der materiellen Welt in aller Pracht, und trotzdem scheinen seine Geweihten in Armut zu leben. Warum ist dies so?«

Mahārāja Parīkṣits Fragestellung zeugt von Klugheit. Die Geweihten Śivas und die Geweihten Viṣṇus sind sich stets uneinig. Selbst heute noch kritisieren sich in Indien diese beiden Arten von Geweihten, und vor allem in Südindien halten die Anhänger Rāmānujācāryas und die Śaṅkarācāryas hin und wieder Versammlungen ab, bei denen sie die vedischen Schlußfolgerungen erörtern. Die Anhänger Rāmānujācāryas gehen in der Regel aus solchen Begegnungen siegreich hervor. Mahārāja Parīkṣit nun wollte mit seiner Frage an Śukadeva Gosvāmī erfahren, wie der ganze Sachverhalt zu verstehen sei.

Die Tatsache, daß Śiva in Armut lebt, obwohl seine Geweihten stets reich erscheinen, und daß Śrī Kṛṣṇa oder Śrī Viṣṇu stets reich ist und dennoch Seine Geweihten sehr arm zu sein scheinen, muß für den Außenstehenden widersprüchlich und verwunderlich sein.

Śukadeva Gosvāmī war sogleich bereit, König Parīkṣits Frage nach den scheinbaren Widersprüchlichkeiten, die man bei der Verehrung Śivas und bei der Verehrung Viṣṇus beobachtet, zu beantworten.

Śiva ist der Herr über die materielle Energie. Die materielle Energie ist nämlich in Śivas Frau, der Göttin Durgā, verkörpert, und weil Durgā völlig unter dem Einfluß Śivas steht, gilt Śiva als der Meister der materiellen Energie. Die materielle Energie manifestiert sich in drei Eigenschaften oder Erscheinungsformen, nämlich Tugend, Leidenschaft und Unwissenheit, und somit ist Śiva der Herr über diese drei Eigenschaften. Obgleich Śiva sich zum Wohl der bedingten Lebewesen mit den materiellen Eigenschaften befaßt, bleibt er ihr Lenker und wird nicht von ihnen beeinflußt. Die bedingte Seele wird von den drei Eigenschaften beherrscht, doch Śiva gerät, da er ihr Meister ist, niemals unter ihren Einfluß.

Aus den Erklärungen Śukadeva Gosvāmīs geht hervor, daß die Ergebnisse der Verehrung verschiedener Halbgötter nicht, wie es von einigen, weniger intelligenten Menschen behauptet wird, die gleichen sind wie die der Verehrung Śrī Viṣṇus. Er sagt ganz deutlich, daß man durch die Verehrung Śivas einen ganz anderen Gewinn erhält als durch die Verehrung Viṣṇus. Das gleiche wird in der Bhagavad-gītā (9.25) bestätigt: Diejenigen, die die Halbgötter verehren, bekommen ihren Wünschen entsprechend das, was die jeweiligen Halbgötter gewähren können. Ebenso erhalten diejenigen, die die materielle Energie verehren, den entsprechenden Gewinn, und auch die Verehrer der pitās erhalten ihre Ergebnisse in gleicher Weise. Diejenigen aber, die sich dem hingebungsvollen Dienst oder vielmehr der Verehrung des Höchsten Herrn, Viṣṇu oder Kṛṣṇa, widmen, gelangen zu den Vaikuṇṭha-Planeten oder nach Kṛṣṇaloka. Man kann dem transzendentalen Bereich, dem paravyoma oder spirituellen Himmel, nicht dadurch näherkommen, daß man Śiva, Brahmā oder irgendeinen anderen Halbgott verehrt.

Weil die materielle Welt ein Erzeugnis der drei Erscheinungsweisen der materiellen Natur ist, sind all die vielfältigen Manifestationen aus diesen drei Eigenschaften entstanden. Mit Hilfe der materialistischen Wissenschaft hat die moderne Zivilisation viele Maschinen und Annehmlichkeiten für das tägliche Leben geschaffen, die jedoch auch nur verschiedene, aus Wechselwirkungen der materiellen Erscheinungsweisen entstandene Erzeugnisse sind. Obwohl die Geweihten Śivas oft viele materielle Güter bekommen, sollten wir doch wissen, daß sie nur Erzeugnisse ansammeln, die von den drei Erscheinungsweisen der materiellen Natur hervorgebracht wurden. Die drei Eigenschaften unterteilen sich wiederum sechzehnfach, nämlich in die zehn Sinne (fünf Handlungssinne und fünf Sinne zum Ansammeln von Wissen), den Geist und die fünf Elemente Erde, Wasser, Feuer, Luft und Äther. Diese sechzehn Dinge sind weitere Ausdehnungen der drei Eigenschaften. Materielles Glück oder Wohlstand bedeutet Möglichkeiten, die Sinne zu befriedigen, vor allem durch die Genitalien, die Zunge und den Geist. Durch den Gebrauch unseres Geistes schaffen wir viele Annehmlichkeiten zum Genuß mit den Genitalien und der Zunge. Der Reichtum eines Menschen in der materiellen Welt wird daran gemessen, inwieweit er von seinen Genitalien und seiner Zunge Gebrauch machen kann oder, mit anderen Worten, wie gut er es vermag, seinen Geschlechtstrieb auszuschöpfen und seinen verwöhnten Gaumen mit köstlichen Speisen zu befriedigen. Zum materiellen Fortschritt der Zivilisation gehört unbedingt, daß man alle möglichen genußvollen Dinge erfindet, die einen auf der Grundlage dieser beiden Prinzipien glücklich machen sollen: Freuden für die Genitalien und Freuden für die Zunge. Hierin liegt die Antwort auf König Parīkṣits Frage an Śukadeva Gosvāmī, weshalb die Verehrer Śivas so reich seien: Die Geweihten Śivas sind nur in bezug auf materielle Eigenschaften reich. Im Grunde ist solch sogenannter Fortschritt der Zivilisation, wie sie ihn begehren, nur die Ursache weiterer Verstrickung ins materielle Dasein. Es ist kein wirklicher Fortschritt, sondern Erniedrigung.

Schließlich ist es so, daß Śiva, weil er der Meister der drei Erscheinungsweisen ist, seinen Geweihten zur Befriedigung der Sinne Güter zukommen läßt, die durch die Wechselwirkungen dieser Erscheinungsweisen geschaffen werden. Śrī Kṛṣṇa jedoch gibt uns in der Bhagavad-gītā (2.45) die Anweisung, das von den drei Erscheinungsweisen beeinflußte Dasein zu transzendieren: nistraiguṇyo bhavārjuna. »Es ist die Bestimmung des menschlichen Lebens, daß man transzendental zu den drei Erscheinungsweisen wird.« Man kann nicht aus der materiellen Verstrickung freikommen, solange man nicht nistrai-guṇya ist. Die Segnungen Śivas nützen daher den bedingten Seelen in Wirklichkeit nichts, obwohl sie dem Anschein nach große Gewinne sind.

Śukadeva Gosvāmī fuhr fort: »Der Höchste Persönliche Gott Hari ist transzendental zu den drei Eigenschaften der materiellen Natur.« In der Bhagavad-gītā (7.14) wird gesagt, daß jeder, der sich Ihm hingibt, der Gewalt dieser drei Erscheinungsweisen entkommt. Wenn sich schon die Geweihten Haris transzendental zur Gewalt der materiellen Erscheinungsweisen verhalten, muß Er Selbst erst recht transzendental sein. Im Śrīmad-Bhāgavatam wird deshalb erklärt, daß Hari oder Kṛṣṇa die ursprüngliche und höchste Persönlichkeit ist. Es gibt zwei prakṛtis oder Energien, nämlich die innere und die äußere Energie, und Kṛṣṇa ist der Herr beider prakṛtis. Er ist sarva dṛk, der Beherrschende aller Tätigkeiten der inneren und der äußeren Energien, und Er wird als der upadraṣṭa, der höchste Ratgeber, bezeichnet. Da Er der höchste Ratgeber ist, steht Er über allen Halbgöttern, die lediglich Seinen Befehlen folgen. Wenn man deshalb direkt nach den Anweisungen des Höchsten Herrn handelt, wie es in der Bhagavad-gītā und dem Śrīmad-Bhāgavatam eindringlich nahegelegt wird, wird man nach und nach nirguṇa, d. h. transzendental zu den Wechselwirkungen der materiellen Erscheinungsweisen. Nirguṇa zu sein bedeutet, keine materiellen Güter zu besitzen, denn der Besitz materieller Vorteile bedeutet, wie bereits erklärt, eine Steigerung der Aktionen und Reaktionen der drei materiellen Erscheinungsweisen. Wenn man den Höchsten Persönlichen Gott verehrt, wird man, statt materieller Reichtümer wegen eingebildet zu werden, reich an spirituellem Fortschritt im Wissen vom Kṛṣṇa-Bewußtsein. Nirguṇa zu werden bedeutet, ewigen Frieden, Furchtlosigkeit, Religiosität, Wissen und die Fähigkeit zur Entsagung zu erreichen. All dies sind Merkmale der Befreiung von der Verunreinigung durch die materiellen Erscheinungsweisen.

Als Antwort auf Parīkṣit Mahārājas Frage sprach Śukadeva Gosvāmī als nächstes von einer historischen Begebenheit, die mit Mahārāja Parīkṣits Großvater König Yudhiṣṭhira zusammenhing. Er sagte, daß König Yudhiṣṭhira, nachdem er das aśvamedha-Opfer an der großen Opferstätte beendet hatte, in Gegenwart bedeutender Autoritäten die gleiche Frage stellte wie später sein Enkel - wie es nämlich komme, daß die Geweihten Śivas materiell wohlhabend seien, die Geweihten Viṣṇus hingegen nicht. Śukadeva sprach dabei von König Yudhiṣṭhira als »dein Großvater«, um Mahārāja Parīkṣit daran zu erinnern, daß er mit Kṛṣṇa verwandt sei und seine Großväter eine enge Beziehung zum Höchsten Persönlichen Gott hatten.

Kṛṣṇa ist zwar bereits von Natur aus stets zufrieden, doch wurde Er, als Mahārāja Yudhiṣṭhira diese Frage stellte, noch zufriedener, denn Fragen solcher Art und ihre Beantwortungen, sind für die gesamte Kṛṣṇa-bewußte Gesellschaft von großer Bedeutung. Wenn Kṛṣṇa mit einem Gottgeweihten über etwas spricht, sind Seine Worte nicht nur für den betreffenden Gottgeweihten bestimmt, sondern für die gesamte Menschheit. Die Anweisungen des Höchsten Persönlichen Gottes sind selbst für die Halbgötter, deren Führer Brahmā, Śiva und andere sind, von großem Wert, und jemand, der die Anweisungen des Höchsten Persönlichen Gottes, der zum Wohl aller Lebewesen in der materiellen Welt erscheint, nicht nutzt, ist zweifellos sehr unglückselig.

Śrī Kṛṣṇa beantwortete Mahārāja Yudhiṣṭhiras Frage wie folgt: »Wenn Ich einem Gottgeweihten sehr geneigt bin und ihm ganz besonders helfen möchte, nehme Ich ihm als erstes allen Reichtum fort.« Wenn der Gottgeweihte dann entweder bettelarm wird oder in verhältnismäßig große Armut gerät, verlieren seine Verwandten und Familienangehörigen das Interesse an ihm und lösen in den meisten Fällen ganz die Verbindung. Der Gottgeweihte wird dann doppelt so unglücklich: Erst wird er unglücklich, weil ihm von Kṛṣṇa aller Reichtum genommen wurde, und dann wird er noch unglücklicher, weil ihn seine Verwandten seiner Armut wegen verlassen. Wir müssen in diesem Zusammenhang verstehen, daß es nicht auf karma-phala oder sündige Taten des Gottgeweihten zurückzuführen ist, wenn er auf diese Weise in Not gerät, sondern daß die Armut des Gottgeweihten vom Höchsten Persönlichen Gott veranlaßt wird. Ebenso ist es nicht auf fromme Handlungen des Gottgeweihten zurückzuführen, wenn er materiell reich wird. Ob ein Gottgeweihter ärmer oder reicher wird, immer geschieht es durch die Fügung des Höchsten Persönlichen Gottes. Kṛṣṇa schafft solche Situationen für Seinen Geweihten, um ihn völlig von Sich abhängig zu machen und ihn von allen materiellen Pflichten zu befreien. Dann kann dieser seine Energien, Geist und Körper - alles - dem Dienst des Herrn weihen, und das wird reines hingebungsvolles Dienen genannt. Im Nārada-pañcarātra wird deshalb erklärend die Wendung sarvopādhi-vinirmuktam gebraucht, was bedeutet »von allen Bezeichnungen befreit«. Alles, das man für die Familie, Gesellschaft, Gemeinschaft, Heimat oder Menschheit tut, ist mit Bestimmungen verbunden wie »ich gehöre zu dieser Gesellschaft«, »ich gehöre zu dieser Nation«, oder »ich gehöre zu dieser Gemeinschaft«. Solche Identifizierungen sind jedoch nichts weiter als Bestimmungen. Wenn ein Gottgeweihter durch die Gnade des Herrn von allen Bestimmungen befreit ist, befindet sich sein hingebungsvoller Dienst auf der Stufe wirklichen naiṣkarmas. Die jñānīs fühlen sich sehr zur Stufe des naiṣkarma hingezogen, auf der die Handlungen, die man begeht, keine materiellen Nachwirkungen haben. Wenn die Handlungen des Gottgeweihten von allen materiellen Reaktionen frei sind, gehören sie nicht mehr zur Kategorie des karma-phalam, der fruchtbringenden Tätigkeiten. Wie von den Veden in Person bereits erklärt wurde, werden das Glück und Leid des Gottgeweihten vom Höchsten Persönlichen Gott für ihn geschaffen, und deshalb ist es dem Gottgeweihten gleichgültig, ob er Glück oder Unglück erfährt. Er erfüllt einfach weiter seine Pflichten im hingebungsvollen Dienst. Und obwohl seine Handlungen anscheinend den Aktionen und Reaktionen fruchtbringenden Tuns unterworfen sind, ist er in Wirklichkeit von den Folgen des Handelns frei.

Es mag sich die Frage stellen, warum ein Gottgeweihter überhaupt vom Höchsten Persönlichen Gott in Schwierigkeiten gebracht wird. Die Antwort lautet, daß das Verhalten des Herrn, wenn Er Seinen Geweihten in solche Situationen versetzt, wie das eines Vaters zu verstehen ist, der zu seinen Söhnen manchmal etwas grob wird. Weil der Gottgeweihte eine hingegebene Seele ist und der Herr Sich Seiner angenommen hat, sollte man wissen, ganz gleich, in welche Lebenslage er vom Herrn gebracht wird, sei sie glück- oder leidvoll, daß hinter jeglicher Fügung der große Plan des Höchsten Persönlichen Gottes steht. So ließ Kṛṣṇa zum Beispiel die Pāṇḍavas in so große Not geraten, daß selbst Großvater Bhīṣma dies nicht begreifen konnte. Er klagte, daß die Pāṇḍava-Familie all diese Nöte ertragen mußte, obwohl sie von König Yudhiṣṭhira, dem frömmsten König, und von den beiden mächtigen Kriegern Bhīma und Arjuna beschützt wurde, und obwohl die Pāṇḍavas enge Freunde und Verwandte Kṛṣṇas waren. Später jedoch stellte sich heraus, daß all dies vom Höchsten Persönlichen Gott Śrī Kṛṣṇa als Teil Seiner Mission, die Schurken zu vernichten und die Gottgeweihten zu beschützen, so eingerichtet worden war.

An dieser Stelle könnte sich eine weitere Frage erheben, und zwar: Worin besteht der Unterschied, wenn ein Gottgeweihter durch den Willen des Höchsten Persönlichen Gottes in vielerlei glückliche und unglückliche Situationen versetzt wird und ein gewöhnlicher Mensch als Ergebnis seiner früheren Taten in solche Lebenslagen gerät? Inwiefern ist der Gottgeweihte besser als ein gewöhnlicher karmī? Die Antwort lautet, daß sich die karmīs und die Gottgeweihten niemals auf gleicher Ebene befinden, denn ganz gleich in welcher Lebenslage sich der karmī befindet, er bleibt dem Kreislauf von Geburt und Tod unterworfen, da der Same des karma oder des fruchtbringenden Handelns in ihm steckt und keimt, sobald sich die Gelegenheit bietet. Durch das Gesetz des karma ist der gewöhnliche Mensch für immer an wiederholte Geburten und Tode gefesselt, wohingegen das Leid und Glück eines Gottgeweihten, das nicht dem Gesetz des karma untersteht, Teil einer zeitweiligen Fügung des Höchsten Persönlichen Gottes ist, die den Gottgeweihten nicht fesselt. Solche Fügungen läßt der Herr nur für einen ganz bestimmten Zweck geschehen. Wenn ein karmī segensreiche Werke vollbringt, wird er zu den himmlischen Planeten erhoben, und wenn er gottlos handelt, wird er in höllische Lebensumstände versetzt. Doch ob ein Gottgeweihter auf sogenannte fromme oder auf unfromme Weise handelt - er wird nicht erhoben und fällt auch nicht, sondern wird in das spirituelle Königreich versetzt. Deshalb befinden sich das Glück und Leid eines Gottgeweihten und das eines karmī nicht auf gleicher Ebene. Diese Tatsache bestätigte Yamarāja einst in einer Ansprache an seine Diener im Zusammenhang mit der Befreiung Ajāmilas. Dabei trug Yamarāja seinen Anhängern auf, Menschen zu ergreifen, die niemals den heiligen Namen des Herrn ausgesprochen, noch jemals an die Gestalt, die Eigenschaften und die Spiele des Herrn gedacht hätten. Gleichzeitig gab Yamarāja seinen Häschern auch die Anweisung, niemals die Gottgeweihten zu bedrohen. Vielmehr sollten sie, wie er ihnen befahl, jedem Gottgeweihten, dem sie begegneten, ihre achtungsvollen Ehrerbietungen darbringen. Es steht damit nicht zur Frage, daß ein Gottgeweihter innerhalb der materiellen Welt erhoben wird oder herabfällt. Ebenso wie ein himmelweiter Unterschied zwischen der Strafe der Mutter und der eines Feindes besteht, ist auch die Notlage eines Gottgeweihten etwas völlig anderes als die eines gewöhnlichen karmī.

An dieser Stelle mag eine weitere Frage auftauchen: Wenn Gott allmächtig ist, warum sollte Er versuchen, Seinen Geweihten zu bessern, indem Er ihn in Schwierigkeiten bringt? Die Antwort darauf lautet, daß es nicht ohne Absicht geschieht, wenn der Höchste Persönliche Gott Seinen Geweihten in eine schwierige Situation bringt. Manchmal ist der Grund, daß sich bei einem Gottgeweihten die Gefühle der Anhaftung an Kṛṣṇa in Notlagen noch steigern. Als Kṛṣṇa zum Beispiel einmal, ehe Er die Hauptstadt der Pāṇḍavas verließ, um nach Hause zurückzukehren, Seine Angehörigen dazu um Erlaubnis bat, sagte Kuntīdevī: »Mein lieber Kṛṣṇa, wenn wir uns in Not befinden, weilst Du stets bei uns; nun aber, da wir zu Königswürde gelangt sind, verläßt Du uns. Ich entscheide mich eher dafür, in Not zu leben, als Dich zu verlieren.« Wenn ein Geweihter in Not gerät, steigern sich seine Bemühungen im hingebungsvollen Dienst. Der Herr versetzt daher, um Seinem Geweihten eine besondere Gunst zu erweisen, diesen manchmal in Not. Abgesehen davon ist, wie man sagt, die Süße des Glücks süßer für jene, die Bitterkeit gekostet haben. Der Höchste Herr kommt in die materielle Welt herab, nur um Seine Geweihten vor Nöten zu bewahren; das bedeutet, der Herr käme nicht, wenn sich die Geweihten nie in Not befänden. Was die Vernichtung der Dämonen und Schurken betrifft, so kann dieses ohne weiteres von Seinen vielfachen Energien erledigt werden; zum Beispiel werden viele Dämonen durch die äußere Energie, die Göttin Durgā, getötet. Der Herr braucht also nicht persönlich zu erscheinen, um die asuras oder Dämonen zu töten. Doch wenn Sein Geweihter in Not ist, muß Er kommen. Śrī Nṛsiṁhadeva erschien nicht, um Hiraṇyakaśipu zu töten, sondern um Prahlāda zu sehen und ihn zu segnen. Der Herr erschien also, weil Prahlāda Mahārāja sich in Not befand.

Wenn nach der finsteren Nacht schließlich am Morgen die Sonne aufgeht, ist dies sehr freudvoll. Bei sengender Hitze empfindet man kaltes Wasser als sehr wohltuend, und in der eisigen Kälte des Winters freut man sich über heißes Wasser. Ähnlich ergeht es einem Gottgeweihten, der sich, nachdem er die Bedingungen der materiellen Welt erfahren hat, der spirituellen Glückseligkeit erfreut, die der Herr ihm schenkt, denn für ihn wird das Dasein noch glückseliger und genußreicher.

Der Herr fuhr fort: »Wenn Mein Geweihter aller materiellen Güter bar ist und seine Verwandten, Freunde und Familienangehörigen ihn verlassen haben, sucht er völlig bei den Lotosfüßen des Herrn Zuflucht, da er niemanden sonst hat, der sich um ihn kümmert. Śrīla Narottama dāsa Ṭhākura sang deshalb in einem seiner Lieder: »Mein lieber Śrī Kṛṣṇa, o Sohn Nanda Mahārājas, Du stehst nun vor mir zusammen mit Śrīmatī Rādhārāṇī, der Tochter König Vṛṣabhānus. Nun gebe ich mich Dir hin. Bitte nimm mich an. Bitte stoße mich nicht von Dir. Ich habe keine andere Zuflucht als Dich.«

Wenn ein Gottgeweihter in scheinbar beklagenswerte Umstände gerät und ohne materielle Güter und Familie dasteht, versucht er zunächst, seinen früheren materiellen Wohlstand wiederzuerlangen; doch obwohl er es immer wieder versucht, nimmt Kṛṣṇa ihm immer wieder seinen Besitz fort. So wird der Gottgeweihte schließlich enttäuscht von seinen Bemühungen, und auf dieser Stufe der Überdrüssigkeit aller materiellen Handlungen kann er sich dem Höchsten Persönlichen Gott ganz hingeben. Solchen Menschen gibt der Herr von innen her den Rat, die Gesellschaft von Gottgeweihten aufzusuchen. Wenn sie dann mit Gottgeweihten zusammen sind, entwickeln sie ganz von selbst die Neigung, dem Höchsten Persönlichen Gott zu dienen, und bekommen sogleich vom Herrn alle Möglichkeiten, im Kṛṣṇa-Bewußtsein Fortschritte zu machen. Die Nichtgottgeweihten dagegen sind sehr darauf bedacht, ihren materiellen Daseins-Status aufrechtzuerhalten. Für gewöhnlich kommen sie nicht dazu, den Höchsten Persönlichen Gott zu verehren, sondern huldigen Śiva oder anderen Halbgöttern, um sich rasch materiellen Gewinn zu verschaffen. In der Bhagavad-gītā (4.12) wird deshalb gesagt: kāṇkṣantaḥ karmaṇāṁ siddhiṁ yajanta iha devatāḥ. »Die karmīs verehren die vielen Halbgötter, um in der materiellen Welt zu Erfolg zu gelangen.« Śrī Kṛṣṇa sagt auch, daß diejenigen, die die Halbgötter verehren, keine reife Intelligenz besitzen. Die Geweihten des Höchsten Persönlichen Gottes wenden sich aufgrund Ihrer starken Zuneigung zu Ihm und nicht, wie die Toren, an die Halbgötter.

Śrī Kṛṣṇa sagte weiter zu König Yudhiṣṭhira: »Mein Geweihter läßt sich nicht durch widrige Lebensumstände beirren; er bleibt immer fest und stetig. Daher gebe Ich Mich ihm Selbst und erweise ihm Meine Gunst, so daß er den höchsten Erfolg im Leben erreichen kann. Die Gnade, die der Höchste Persönliche Gott dem geprüften Gottgeweihten erweist, wird als Brahman bezeichnet, was darauf hindeutet, daß das Ausmaß dieser Gnade nur dem Ausmaß des alldurchdringenden Brahman zu vergleichen ist. »Brahman« bedeutet »grenzenlos groß« und »sich grenzenlos ausdehnend«. Kṛṣṇas Gnade wird auch als parama (erhaben) beschrieben, dann sie kann mit nichts in der materiellen Welt verglichen werden, und manchmal wird sie auch als sūkṣmam bezeichnet, was »höchst vortrefflich« bedeutet. Die Gnade des Herrn gegenüber dem bewährten Geweihten ist nämlich nicht nur groß und unendlich, sondern auch von der vortrefflichsten transzendentalen Liebe durchdrungen, die der Gottgeweihte und der Herr füreinander empfinden. Diese Gnade wird weiter als cinmātram, als »völlig spirituell« bezeichnet. Das Wort mātram bezieht sich auf absolut Spirituelles, ohne eine Spur materieller Eigenschaften. Schließlich nennt man die Gnade des Herrn auch sat (ewig) und anantakam (grenzenlos). Warum sollte der Gottgeweihte, dem ein solch grenzenloser spiritueller Segen zuteil wird, noch die Halbgötter verehren? Ein Geweihter Kṛṣṇas verehrt weder Śiva noch Brahmā, noch irgendeinen anderen Halbgott niederen Ranges. Er weiht sich ganz dem transzendentalen liebevollen Dienst des Höchsten Persönlichen Gottes.

Śukadeva Gosvāmī fuhr fort: »Die Halbgötter wie Indra, Candra, Varuṇa und andere, allen voran Brahmā und Śiva, neigen dazu, sehr schnell Wohlgefallen zu zeigen, wenn ihre Geweihten ihnen Gutes tun, und sehr schnell zornig zu werden, wenn diese Fehler begehen. Mit dem Höchsten Persönlichen Gott Śrī Viṣṇu indes verhält es sich nicht so; dies erklärt sich dadurch, daß jedes Lebewesen in der materiellen Welt, auch die Halbgötter, von den drei Erscheinungsweisen der materiellen Natur gelenkt wird und die Eigenschaften Unwissenheit und Leidenschaft in der materiellen Welt vorherrschen. Diejenigen, die von den Halbgöttern als deren Geweihte Segnungen empfangen, sind ebenfalls von den materiellen Eigenschaften befallen, vor allem von Leidenschaft und Unwissenheit. Śrī Kṛṣṇa erklärt deshalb in der Bhagavad-gītā (7.23), daß es nicht besonders klug ist, von den Halbgöttern Segnungen zu erstreben, denn die Ergebnisse solcher Segnungen sind vergänglich. Es ist ein leichtes, durch die Verehrung der Halbgötter zu materiellem Reichtum zu gelangen, doch die Folgen sind oftmals unheilvoll. Deshalb schätzen nur die weniger intelligenten Menschen die Segnungen der Halbgötter. Diejenigen, die Segnungen von den Halbgöttern empfangen, werden mit der Zeit stolz auf ihren materiellen Besitz und mißachten ihre Gönner.

Śukadeva Gosvāmī erklärte König Parīkṣit: »Mein lieber König, Brahmā, Viṣṇu und Śiva, die drei bedeutendsten Persönlichkeiten der materiellen Schöpfung, können jeden segnen oder verdammen. Brahmā und Śiva sind sehr leicht zufriedenzustellen, aber auch sehr leicht zu erzürnen. Wenn sie zufrieden sind, erteilen sie, ohne viel Überlegung, ihre Segnungen, und wenn sie erzürnt sind, verdammen sie ihren Geweihten ohne Überlegung. Śrī Viṣṇu ist anders. Śrī Viṣṇu ist sehr bedachtsam. Wenn ein Gottgeweihter etwas von Viṣṇu haben möchte, erwägt Viṣṇu erst, ob die Segnung wirklich gut für Seinen Geweihten sein werde. Viṣṇu gewährt niemals einen Segen, der sich letzten Endes für den Gottgeweihten als unheilvoll erweist, denn Er ist durch Sein transzendentales Wesen stets gnadenvoll. Bevor Er deshalb eine Segnung erteilt, überlegt Er, ob diese auch tatsächlich vorteilhaft für Seinen Geweihten ist. Weil der Höchste Persönliche Gott immer gnadenvoll ist, ist Sein Verhalten immer segensreich, selbst wenn Er einen Dämon tötet, oder wenn Er allem Anschein nach auf einen Gottgeweihten zornig wird. Der Höchste Persönliche Gott ist deshalb als absolut gut bekannt. Alles, was Er tut, ist gut.

Was die Segnungen der Halbgötter wie Śiva betrifft, so gibt es in diesem Zusammenhang eine historische Begebenheit, die von großen Weisen berichtet wird. Und zwar geriet einst Śiva, nachdem er dem Sohn Śakunis, einem Dämon namens Vṛkāsura, eine Segnung erteilt hatte, in große Gefahr. Vṛkāsura trachtete nach einer Segnung, und deshalb versuchte er festzustellen, welche der drei herrschenden Gottheiten er verehren müsse, damit sein Wunsch in Erfüllung gehen möge. Eines Tages traf er den großen Weisen Nārada, den er fragte, an wen er sich wenden solle, um so schnell wie möglich die Ergebnisse der Bußen zu erzielen, die er sich auferlegt hatte. Er sagte: »Welche der drei Gottheiten Brahmā, Viṣṇu und Śiva ist am ehesten zufriedenzustellen?« Nārada durchschaute die Absicht des Dämonen, und deshalb riet er ihm: »Das beste ist, du verehrst Śiva; dann wirst du sehr schnell das Ersehnte bekommen. Śiva ist sehr schnell zufrieden und wird auch sehr schnell ungehalten. Versuche also Śivas Wohlgefallen zu erringen.« Nārada führte Beispiele von Dämonen wie Rāvaṇa und Bāṇāsura an, die zu großem Reichtum kamen, weil sie mit ihren Gebeten Śivas Gunst erlangt hatten. Da der große Weise das Wesen des Dämons Vṛkāsura kannte, riet er ihm nicht, sich an Viṣṇu oder Brahmā zu wenden; denn Menschen wie Vṛkāsura, die sich in der materiellen Erscheinungsweise der Unwissenheit befinden, vermögen die Verehrung Viṣṇus nicht durchzuführen.

Nachdem der Dämon Vṛkāsura von Nārada unterwiesen worden war, begab er sich nach Kedāranātha. Dieser Pilgerort, der in der Nähe von Kaschmir liegt, besteht noch heute. Es liegt fast immer Schnee dort, doch zu einer bestimmten Zeit im Jahr, nämlich während des Monats Juli, ist es möglich, dort die Bildgestalt Śivas zu besuchen. Dann pilgern die Geweihten Śivas dorthin, um ihre Ehrerbietungen darzubringen. Kedāranātha ist den Geweihten Śivas vorbehalten. Nach den vedischen Prinzipien werden Gaben, die den Halbgöttern zum Essen dargeboten werden, in einem Feuer geopfert. Deshalb ist bei allen Zeremonien ein Feueropfer notwendig. Der Umstand, daß den Halbgöttern etwas durch das Feuer zum Essen dargebracht werden muß, wird in den śāstras besonders betont. So begab sich der Dämon Vṛkāsura also nach Kedāranātha und entfachte dort ein Opferfeuer, um Śiva zu erfreuen.

Nachdem er im Namen Śivas das Feuer entzündet hatte, machte er sich daran, sein eigenes Fleisch zu opfern, indem er es aus seinem Körper schnitt. So wollte er Śivas besonderes Wohlgefallen erwecken. Es ist dies ein Beispiel für Verehrung in der Erscheinungsweise der Unwissenheit. In der Bhagavad-gītā (17.11-13) werden verschiedene Arten von Opfern aufgeführt. Einige befinden sich in der Erscheinungsweise der Tugend, andere in Leidenschaft und wieder andere in der Erscheinungsweise der Unwissenheit. Es gibt verschiedene Arten von tapasya und Verehrung, weil die Menschen auf der Welt verschieden sind. Doch der endgültige tapasya, das Kṛṣṇa-Bewußtsein, ist der höchste yoga und das höchste Opfer. Wie in der Bhagavad-gītā (6.47) bestätigt wird, besteht der höchste yoga darin, ständig im Herzen an Śrī Kṛṣṇa zu denken, und das höchste Opfer ist der saṅkīrtana-yajña.

In der Bhagavad-gītā (7.20 + 23) wird gesagt, daß die Verehrer der Halbgötter ihre Intelligenz verloren haben. Wie wir später in diesem Kapitel erfahren, wollte Vṛkāsura Śiva zufriedenstellen, um eine materielle Segnung dritten Ranges zu erhalten, die vergänglich und ohne wirklichen Nutzen war. Nur asuras oder Personen in der Erscheinungsweise der Unwissenheit lassen sich solche Segnungen von den Halbgöttern erteilen. Im Gegensatz zum Opfer in der Erscheinungsweise der Unwissenheit ist der arcanā-viddhi-Vorgang der Verehrung Viṣṇus oder Kṛṣṇas sehr einfach. Śrī Kṛṣṇa sagt in der Bhagavad-gītā (9.26), daß Er von Seinem Geweihten schon ein Stück Frucht, eine Blume oder etwas Wasser annimmt, was sich jeder, ob arm oder reich, ohne weiteres beschaffen kann. Natürlich sollen Menschen, die wohlhabend sind, dem Herrn nicht nur ein wenig Wasser, ein Stück Frucht oder ein kleines Blatt opfern. Das Opfer eines reichen Mannes sollte seiner Stellung entsprechen; doch wenn der Gottgeweihte ein armer Mann ist, wird der Herr auch die bescheidenste Gabe von ihm annehmen. Die Verehrung Viṣṇus oder Kṛṣṇas ist sehr einfach und kann von jedem auf dieser Welt durchgeführt werden. Die Verehrung in der Erscheinungsweise der Unwissenheit dagegen, wie sie von Vṛkāsura betrieben wurde, ist nicht nur überaus schwierig und leidvoll, sondern auch sinnlose Zeitverschwendung. Aus diesem Grunde sagt die Bhagavad-gītā, daß die Verehrer der Halbgötter jeglicher Intelligenz beraubt sind. Ihr Vorgang der Verehrung ist äußerst schwierig, und die Ergebnisse, die sie erhalten, sind flackernd und zeitweilig.

Obgleich Vṛkāsura sein Opfer sechs Tage lang fortsetzte, erreichte er sein Ziel nicht, denn es gelang ihm nicht, Śiva persönlich zu Gesicht zu bekommen. Er wollte aber Śiva unmittelbar vor sich sehen, um ihn um eine Segnung zu bitten. Hier finden wir einen weiteren Unterschied zwischen dem Dämon und dem Gottgeweihten. Ein Gottgeweihter weiß ganz sicher, daß alles, was er der Bildgestalt des Herrn in hingebungsvoll dienender Haltung darbringt, angenommen wird; der Dämon dagegen möchte die von ihm verehrte Gottheit von Angesicht zu Angesicht sehen, damit er sich die gewünschte Segnung direkt geben lassen kann. Der Gottgeweihte verehrt Viṣṇu oder Kṛṣṇa nicht um einer Segnung willen. Ein Gottgeweihter wird als akāma oder »frei von allen Wünschen« bezeichnet, der Nichtgottgeweihte hingegen als sarva-kāma oder »nach allem verlangend«. Am siebten Tag schließlich beschloß der Dämon, sich den Kopf abzuschlagen und ihn zu opfern, um Siva zu erfreuen. Er nahm also ein Bad im nahegelegenen See, und ohne zuvor Körper und Haare abzutrocknen, schickte er sich an, sich zu enthaupten. Nach vedischen Vorschriften muß ein Tier, das als Opfer dargebracht werden soll, zuerst gebadet werden und wird dann, während es noch naß ist, geopfert. Als der Dämon also im Begriff war, sich den Kopf abzuschlagen, empfand Śiva großes Mitleid mit ihm. Dieses Mitleid ist ein Merkmal der Erscheinungsweise der Tugend. Śiva wird triliṅga genannt. Daß er Mitleid mit dem Dämon hatte, war daher ein Anzeichen der Erscheinungsweise der Tugend. Mitleid ist jedem Lebewesen eigen. Śivas Mitleid regte sich, weil der Dämon sein Fleisch im Opferfeuer darbrachte. Solches Mitleid ist ganz natürlich. Selbst ein gewöhnlicher Mensch weiß, wenn er sieht, daß ein anderer Selbstmord begehen will, daß es seine Pflicht ist, etwas zu dessen Rettung zu unternehmen, und er wird dies von sich aus tun, ohne daß man ihn erst darum zu bitten braucht. Als Śiva daher schließlich aus dem Feuer erschien, um den Dämon am Selbstmord zu hindern, war dies keine besondere Gunst von ihm.

Der Dämon wurde durch die Berührung Śivas vor dem Selbstmord bewahrt; seine Wunden heilten sogleich, und sein Körper wurde wiederhergestellt wie er zuvor gewesen war. Darauf sprach Śiva zu dem Dämon: »Mein lieber Vṛkāsura, du brauchst dir doch nicht den Kopf abzuschlagen. Du kannst mich bitten, worum du willst, ich werde dir jeden Wunsch erfüllen. Es ist mir unverständlich, warum du dir den Kopf abschlagen wolltest, um mich zu erfreuen, denn ich bin schon zufrieden, wenn man mir ein wenig Wasser opfert.« Nach vedischem Brauch wird die Śiva-liṅga oder die Form Śivas im Tempel tatsächlich nur durch das Opfern von Gangeswassern verehrt, denn es heißt, daß Śiva sehr erfreut ist, wenn Gangeswasser auf sein Haupt gegossen wird. Deshalb opfern ihm seine Geweihten gewöhnlich Gangeswasser und die Blätter des bilva-Baumes, die ganz besonders als Opfer für Śiva und die Göttin Durgā gedacht sind. Auch die Früchte dieses Baumes werden Śiva dargebracht. Śiva erklärte Vṛkāsura, daß er schon mit einer sehr einfachen Art der Verehrung zufrieden sei. Er frage sich, so sagte Śiva, weshalb also Vṛkāsura so bestrebt sei, sich zu enthaupten, und warum er sich so große Schmerzen bereitet habe, als er seinen Körper in Stücke schnitt und diese im Feuer opferte. Solch strenge Bußen seien doch überhaupt nicht nötig. Aber sei es wie es wolle - aus Mitleid und Zuneigung sei er, Śiva, bereit, ihm jede Segnung zu erteilen, die er begehre.

Als Śiva dem Dämon solche Gelegenheit bot, sprach dieser einen furchtbaren und niederträchtigen Wunsch aus. Der Dämon war sehr sündig, und sündige Menschen wissen nicht, um welche Segnungen man die Gottheiten bitten soll. Er bat also Śiva um eine Kraft, durch die, sobald er jemandes Kopf berühre, dieser zerspringen und der Betreffende sterben würde. Die Dämonen werden in der Bhagavad-gītā (7.15) als duṣkṛtina oder Schurken beschrieben. Kṛtī bedeutet »sehr lobenswert«, doch wenn die Silbe duṣ hinzugefügt wird, ergibt sich die Bedeutung »abscheulich«. Statt sich dem Höchsten Persönlichen Gott zuzuwenden, verehren die duṣkṛtinas Halbgötter um abscheulicher materieller Segnungen willen. Manchmal erfinden solche Dämonen, wie z. B. die materialistischen Wissenschaftler, todbringende Waffen. Sie vermögen es nicht, ihre anerkennenswerten Fähigkeiten zur Schaffung etwas Lobenswerten zu nutzen und z. B. etwas zu entdecken, das den Menschen vor dem Tod rettet. Statt dessen erfinden sie Waffen, die den Tod nur noch beschleunigen. Da Śiva so mächtig ist, daß er jede Segnung gewähren kann, hätte der Dämon ihn um etwas bitten können, was der gesamten Menschheit zum Wohl gereicht hätte, aber aus Selbstsucht wünschte er sich, daß jeder, dessen Kopf er mit der Hand berühre, auf der Stelle sterben werde.

Śiva erkannte nun die Beweggründe des Dämons und bereute es deshalb, daß er versprochen hatte, ihm jeden Wunsch zu erfüllen. Er wollte zwar sein Versprechen nicht zurücknehmen, doch tat es ihm im Herzen leid, daß er Vṛkāsura eine Segnung geben mußte, die für die Menschheit so bedrohlich war. Die Dämonen werden als duṣkṛtina oder Schurken bezeichnet, weil sie zwar Intelligenz und andere Fähigkeiten besitzen, diese jedoch dazu gebrauchen, abscheuliche Handlungen zu begehen. So erfinden z. B. die materialistischen Dämonen, wie bereits erwähnt, unter anderem todbringende Waffen. Die wissenschaftliche Forschungsarbeit für solche Erfindungen erfordert unzweifelhaft viel Intelligenz, doch statt etwas zu erfinden, das dem Wohl der gesamten Menschheit diente, entdecken sie etwas, das den Tod, der ohnehin bereits jedem Menschen gewiß ist, nur noch schneller herbeiführt. Ähnlich verhielt es sich mit Vṛkāsura, der, statt Śiva um etwas für alle Menschen Segensreiches zu bitten, etwas verlangte, das der Menschheit sehr gefährlich werden konnte. Śiva war deswegen im Innern bekümmert. Die Geweihten des Persönlichen Gottes bitten Viṣṇu oder Kṛṣṇa niemals um eine Segnung, und wenn sie den Herrn doch einmal um etwas bitten, ist es für die Menschheit in keiner Weise gefährlich. Darin zeigt sich der Unterschied zwischen den Dämonen und den Gottgeweihten oder den Verehrern Śivas und den Verehrern Viṣṇus.

Als Śukadeva Gosvāmī die Geschichte von Vṛkāsura erzählte, nannte er Mahārāja Parīkṣit »Bhārata«, womit er an König Parīkṣits Geburt in einer Familie von Gottgeweihten erinnerte. Mahārāja Parīkṣit war einst von Kṛṣṇa gerettet worden, als er sich noch im Schoß seiner Mutter befand. Nun hätte er Kṛṣṇa bitten können, ihn in ähnlicher Weise vor dem Fluch des brāhmaṇa-Knaben zu schützen, doch tat er es nicht. Der Dämon dagegen wollte jeden durch die Berührung mit seiner Hand töten und dadurch unsterblich werden. Śiva wußte dies, doch weil er sein Versprechen gegeben hatte, erteilte er ihm die gewünschte Segnung.

Der Dämon war so sündig, daß er sogleich beschloß, die Segnung zu mißbrauchen, um Śiva zu töten und Gaurī (Pārvatī), dessen Frau, zu seinem eigenen Genuß mit sich zu nehmen. Er wollte deshalb sofort seine Hand auf Śivas Kopf legen. So geriet Śiva, bedroht durch seine eigene Segnung, die er einem Dämon erteilt hatte, in äußerste Bedrängnis. Dies ist ein weiteres Beispiel dafür, wie ein Verehrung betreibender Materialist seine von den Halbgöttern erhaltene Macht mißbraucht.

Ohne lange zu überlegen, trat Vṛkāsura auf Śiva zu, um ihn an den Kopf zu fassen. Śiva packte solche Angst, daß er am ganzen Körper zu zittern begann, und sofort floh er von der Erde in den Himmel und dort von Planet zu Planet, bis er schließlich die Grenzen des Universums über den höheren Planetensystemen erreichte. Von einem Ort zum anderen floh Śiva, doch der Dämon jagte überallhin hinter ihm her. Selbst die herrschenden Gottheiten der anderen Planeten, wie Brahmā, Indra und Candra, sahen keine Möglichkeit, Śiva aus der Gefahr zu retten, und so verharrten sie in Schweigen, an wen Śiva sich auch wandte.

Zuletzt kam Śiva zu Viṣṇu, der in unserem Universum auf einem Planeten mit Namen Śvetadvipa weilt. Śvetadvīpa ist ein Vaikuṇṭha-Planet jenseits des Einflußbereichs der äußeren Energie. Śrī Viṣṇu befindet Sich in Seinem alldurchdringenden Aspekt überall, aber dort, wo Er Sich persönlich aufhält, ist Vaikuṇṭha. In der Bhagavad-gītā (18.61) heißt es, daß der Herr in den Herzen aller Lebewesen weilt. Er befindet Sich also auch in den Herzen der niederen Lebewesen, was jedoch nicht bedeutet, daß Er ebenfalls von niederer Art ist. Ein jeder Ort, an dem Er Sich aufhält, wird in Vaikuṇṭha verwandelt. Deshalb ist auch der Planet Śvetadvīpa in unserem Universum Vaikuṇṭhaloka. Wie in den śāstras erklärt wird, ist das Wohnen im Wald in der Erscheinungsweise der Reinheit oder Tugend, Wohnen in Großstädten, Städten und Dörfern in der Erscheinungsweise der Leidenschaft, und Wohnen in einer Umgebung, in der die vier sündigen Tätigkeiten, nämlich außereheliche geschlechtliche Beziehungen, Berauschung, Fleischessen und die Veranstaltung von Glücksspielen, vorherrschen, in der Erscheinungsweise der Unwissenheit. Wer jedoch in einem Tempel Viṣṇus, des Höchsten Herrn, wohnt, lebt in Vaikuṇṭha. Ganz gleich wo der Tempel sich befindet, es ist immer Vaikuṇṭha. In ähnlicher Weise ist auch der Planet Śvetadvīpa, obwohl er in der materiellen Welt liegt, Vaikuṇṭha.

Śiva gelangte also schließlich nach Śvetadvīpa, Vaitkuṇṭha. Auf Śvetadvīpa leben große Heilige, die völlig frei sind vom Neid der materiellen Welt und über dem Bereich der vier Prinzipien materieller Tätigkeit - Religiosität, wirtschaftlicher Fortschritt, Sinnenbefriedigung und Befreiung - stehen. Jeder, der einmal zu diesem Planeten gelangt, kehrt nicht wieder in die materielle Welt zurück. Nārāyaṇa wird als liebevoller Freund Seiner Geweihten verehrt, und sobald Er erkannte, daß Śiva in großer Gefahr schwebte, nahm Er die Gestalt eines brahmacārī an und ging Śiva persönlich entgegen, um ihn von weitem zu begrüßen. Der Herr erschien vor ihm als echter brahmacārī mit einem Gurt um die Hüften, einer heiligen Schnur, einer Hirschhaut, einem brahmacārī-Stab und einer raudra-Perlenkette [* Raudra-Perlenketten sind nicht mit tulasī-Ketten zu verwechseln. Sie werden von den Geweihten Śivas benutzt. *] Die leuchtende Ausstrahlung, die von Seinem Körper ausging, zog nicht nur Śiva an, sondern auch den Dämon Vṛkāsura.

Śrī Nārāyaṇa erwies Vṛkāsura sogleich Seine Ehrerbietung, um dessen Aufmerksamkeit und Wohlwollen zu gewinnen. Auf diese Weise hielt er den Dämon auf und sagte zu ihm: »Mein lieber Sohn Śakunis, du siehst sehr müde aus, als habest du einen weiten Weg hinter dir. Was ist dein Anliegen? Warum bist du von so weit hergekommen. Ich sehe, daß du sehr erschöpft bist, und deshalb bitte Ich dich - ruhe dich doch ein wenig aus! Du solltest deinen Körper nicht unnötig überanstrengen, Jeder weiß, wie wertvoll der Körper ist, denn nur mit dem Körper kann man alle Wünsche des Geistes erfüllen. Wir sollten daher den Körper nicht unnötig plagen.«

Der brahmacārī sprach Vṛkāsura als »Sohn Śakunis« an, um ihm so das Gefühl zu geben, Er kenne seinen Vater Śakuni. Vṛkāsura betrachtete den Herrn daraufhin tatsächlich als einen Bekannten der Familie, und Seine schmeichelnden Worte sprachen ihn sehr an. Ehe der Dämon einwenden konnte, er habe keine Zeit, sich auszuruhen, machte der Herr ihn auf die Wichtigkeit des Körpers aufmerksam, was den Dämon überzeugte. Jeder Mensch, besonders wenn er ein Dämon ist, sieht den Körper als etwas überaus Wichtiges an, und so ließ sich auch Vṛkāsura überzeugen.

Um den Dämon weiter zu beschwichtigen, sagte der brahmacārī: »Mein lieber Herr, wenn du meinst, du dürftest mir den Grund verraten, weshalb du dir die Mühe gemacht hast hierherzukommen, dann sage es Mir bitte; vielleicht kann Ich dir helfen, deinen Wunsch zu erfüllen.« Indirekt gab der Herr damit zu verstehen, daß Er, als das Höchste Brahman, ohne weiteres in der Lage war, das Unheil abzuwenden, das Śiva heraufbeschworen hatte.

Der Dämon wurde durch die süßen Worte Nārāyaṇas in der Gestalt des brahmacārī besänftigt, und so vertraute er Ihm schließlich alles an, was in Zusammenhang mit Śivas Segnung geschehen war. Der Herr sagte daraufhin: »Ich kann nicht glauben, daß Śiva dir wirklich eine solche Segnung gewährt hat. Soviel Ich nämlich weiß, befindet Sich Śiva in keiner gesunden Geistesverfassung. Er hatte Streit mit seinem Schwiegervater Dakṣa, der ihn verfluchte, ein piśāca (Geist) zu werden.

So ist er zum Oberhaupt der Geister und Kobolde geworden. Ich traue deshalb seinen Worten nicht. Doch wenn du, Mein lieber König der Dämonen, immer noch den Worten Śivas glaubst, warum machst du dann nicht einmal eine Probe, indem du dir die Hand auf den Kopf legst? Wenn sich herausstellt, daß die Segnung ein Betrug war, kannst du Śiva, diesen Lügner, auf der Stelle töten, so daß er es nicht noch einmal wagen kann, falsche Segnungen zu erteilen.«

Auf diese Weise wurde der Dämon durch Nārāyaṇas betörende Worte und den Einfluß Seiner höheren, illusionierenden Energie verwirrt und vergaß tatsächlich die Macht Śivas und seiner Segnung. Er ließ sich also dazu verleiten, seine Hand an den Kopf zu führen, und sowie der Dämon dies tat, zersprang sein Kopf wie vom Blitz getroffen, und er war auf der Stelle tot. Die Halbgötter des Himmels überschütteten Śrī Nārāyaṇa mit Blumen, priesen ihn voll Dankbarkeit und brachten Ihm ihre Ehrerbietungen dar. Beim Tod Vṛkāsuras begannen alle Bewohner der himmlischen Planetensysteme, auch die pitās, Gandharvas und Bewohner Janalokas, Blumen auf den Persönlichen Gott regnen zu lassen.

So errettete Śrī Viṣṇu in der Gestalt eines brahmacārī Śiva aus höchster Gefahr und wendete alles zum Guten. Śrī Nārāyaṇa erklärte Śiva dann, daß der Dämon Vṛkāsura als Folge seines sündhaften Tuns getötet worden sei. Der größte Frevel des Sünders war es gewesen, daß er sich gegen seinen eigenen Meister, Śiva, hatte vergehen wollen. Śrī Nārāyaṇa sagte des weiteren zu Śiva: »Lieber Herr, wer sich ein Vergehen gegen große Seelen zuschulden kommen läßt, kann nicht bestehen bleiben; er wird durch seine eigenen Sünden verderben, wie es ganz offensichtlich bei diesem Dämon der Fall war, der ein solch schweres Vergehen gegen dich auf sich lud.«

So wurde Śiva durch die Gnade des Höchsten Persönlichen Gottes Nārāyaṇa, der transzendental zu allen materiellen Eigenschaften steht, davor gerettet, von einem Dämon umgebracht zu werden. Jeder, der diese Geschichte mit Glauben und Hingabe hört, wird mit Sicherheit aus der materiellen Verstrickung wie auch aus der Gewalt seiner Feinde befreit werden.

Hiermit endet die Erläuterung Bhaktivedantas zum 88. Kapitel des Buches Kṛṣṇa:
»Die Rettung Śivas«.