Śrīmad-Bhāgavatam
Von A.C. Bhaktivedanta Swami Prabhupāda

Srimad Bhagavatam

"Die bedeutende Schrift Śrīmad-Bhāgavatam, die Mahā-muni Vyāsadeva aus vier ursprünglichen Versen zusammenstellte, beschreibt die erhabensten und weichherzigsten Gottgeweihten und lehnt die betrügerischen Wege materiell-motivierter Religiosität entschieden ab. Es verkündet den höchsten Grundsatz ewiger Religion, die tatsächlich die dreifachen Leiden eines Lebewesens lindern und die höchste Segnung umfassenden Wohlstandes und Wissens gewähren kann. Jene, die gewillt sind, die Botschaft dieser Schrift in einer unterwürfigen, dienenden Haltung zu hören, können augenblicklich den Höchsten Herrn in ihrem Herzen einfangen. Deshalb bedarf es keiner anderen Schrift als des Śrīmad-Bhāgavatam." [CC. Ādi-līlā Erster Teil - Kapitel 1-2, Vers 91]

ERLÄUTERUNG

Dieser Vers erscheint im Śrīmad-Bhāgavatam (1.1.2). Die Worte mahāmuni-kṛte zeigen an, daß das Śrīmad-Bhāgavatam von dem großen Weisen Vyāsadeva zusammengestellt wurde, der manchmal auch Nārāyaṇa Mahā-muni genannt wird, weil er eine Inkarnation Nārāyaṇas ist. Vyāsadeva ist daher kein gewöhnlicher Mensch, sondern ist von der Höchsten Persönlichkeit Gottes bevollmächtigt. Er stellte das schöne Bhāgavatam zusammen, um einige der Spiele des Herrn, der Höchsten Persönlichkeit Gottes, und Seiner Geweihten zu beschreiben.

Im Śrīmad-Bhāgavatam wird zwischen wirklicher und vorgeblicher Religion klar unterschieden. Dieser ursprünglichen und echten Erläuterung des Vedānta-sūtra zufolge gibt es unzählige anmaßende Glaubensrichtungen, die als Religion gelten, aber die wirkliche Essenz der Religion mißachten. Die wirkliche Religion eines Lebewesens ist seine natürliche, angeborene Eigenschaft, wohingegen anmaßende Religion eine Form der Unwissenheit ist, die künstlich das reine Bewußtsein des Lebewesens unter gewissen unvorteilhaften Bedingungen bewölkt. Wirkliche Religion liegt im Schlafzustand, wenn künstliche Religion von der mentalen Ebene her den Vorrang hat. Ein Lebewesen kann diese schlummernde Religion wiedererwecken, wenn es mit reinem Herzen hört.

Der Pfad der Religion, der im Śrīmad-Bhāgavatam vorgeschrieben wird, unterscheidet sich von allen Formen unvollkommener Religiosität. Religion kann in den folgenden drei Kategorien betrachtet werden: (1) der Pfad fruchttragender Arbeit; (2) der Pfad des Wissens und mystischer Kräfte und (3) der Pfad der Verehrung und des hingebungsvollen Dienstes.

Der Pfad fruchttragender Arbeit (karma-kāṇḍa) ist ein betrügerischer Vorgang — auch wenn er mit religiösen Zeremonien ausgeschmückt ist, die unsere materiellen Verhältnisse verbessern sollen — weil er uns niemals dazu befähigen kann, Befreiung aus dem materiellen Dasein zu erlangen und das höchste Ziel zu erreichen. Ein Lebewesen kämpft unaufhörlich schwer, um von den Qualen des materiellen Daseins frei zu werden; aber der Pfad fruchttragender Arbeit führt es entweder zu zeitweiligem Glück oder zeitweiligem Leid im materiellen Dasein. Durch fromme fruchttragende Arbeit wird man in eine Lage versetzt, in der man vorübergehend materielles Glück empfinden kann, wohingegen gottlose Handlungen uns in eine leidvolle Lage materieller Knappheit und Not bringen. Aber auch wenn man in die vollkommenste Lage materiellen Glücks versetzt wird, kann man auf diese Weise nicht von den Leiden Geburt, Tod, Alter und Krankheit frei werden. Einem in materieller Hinsicht glücklichen Menschen fehlt deshalb immer noch die ewige Erleichterung, die ihm weltliche Religiosität in Form von fruchttragender Arbeit niemals verschaffen kann.

Die Pfade der Kultivierung von Wissen (jñāna-mārga) und mystischen Kräften (yoga-mārga) sind gleichermaßen gefährlich, da man nicht weiß, wohin man gelangen wird, wenn man diesen unsicheren Methoden folgt. Ein empirischer Philosoph mag viele, viele Leben lang durch intellektuelle Spekulation versuchen, spirituelles Wissen zu erlangen, doch solange er nicht die Stufe der reinsten Eigenschaft der Tugend erreicht — mit anderen Worten, solange er nicht die Ebene materieller Spekulation transzendiert —, kann er nicht wissen, daß alles von Vāsudeva, der Persönlichkeit Gottes, ausgeht. Seine Anhaftung an den unpersönlichen Aspekt des Höchsten Herrn macht ihn ungeeignet, sich zur transzendentalen Stufe des vāsudeva-Verständnisses zu erheben, und so gleitet er wegen seines unreinen Geisteszustandes wieder in das materielle Dasein hinab, selbst nachdem er zur höchsten Stufe der Befreiung aufgestiegen sein mag. Dieser Sturz ist auf einen fehlenden locus standi im Dienst des Höchsten Herrn zurückzuführen.

Was die mystischen Kräfte der yogīs betrifft, so sind sie ebenfalls materielle Verstrickungen auf dem Pfad der spirituellen Erkenntnis. Ein deutscher Gelehrter, der in Indien zu einem Gottgeweihten wurde, sagte, die materialistische Wissenschaft habe in der Nachahmung der mystischen Kräfte der yogīs bereits beachtliche Fortschritte gemacht. Er kam daher nicht nach Indien, um die mystischen Kräfte der yogīs zu erlernen, sondern den Pfad des transzendentalen liebevollen Dienstes für den Höchsten Herm, wie er in der bedeutenden Schrift Śrīmad-Bhāgavatam erwähnt wird. Mystische Kräfte können einen yogī zwar in materieller Hinsicht mächtig machen und ihm so vorübergehende Erleichterung von den Leiden Geburt, Tod, Alter und Krankheit verschaffen, wie dies auch andere materialistische Wissenschaften bewirken, aber solche mystischen Kräfte können nie eine dauernde Quelle der Befreiung von diesen Leiden sein. Deshalb ist dieser Pfad der Religiosität, wie die Bhāgavata-Schule sagt, ebenfalls ein Weg, der seine Nachfolger betrügt. In der Bhagavad-gītā (6.47) wird klar gesagt, daß der erhabenste und mächtigste mystische yogī derjenige ist, der ständig an den Höchsten Herrn in seinem Herzen denken und sich in Seinem liebevollen Dienst beschäftigen kann.

Die unzähligen devas oder verwaltenden Halbgötter zu verehren, ist noch gefährlicher und unsicherer als die oben erwähnten Vorgänge des karma-kāṇḍa und jñāna-kāṇḍa. Diesem Vorgang, viele Götter, wie Durgā, Śiva, Gaṇeśa, Sūrya und die unpersönliche Viṣṇu-Form, zu verehren, wenden sich nur Menschen zu, die durch ein starkes Verlangen nach Sinnenbefriedigung verblendet sind. Wenn solche Verehrung vorschriftsmäßig nach den Ritualen der śāstras betrieben wird, die aber heute, im Zeitalter des Mangels und der Knappheit, nur sehr schwer auszuführen sind, kann eine solche Verehrung zweifellos den Wunsch nach Sinnenbefriedigung erfüllen, aber der Erfolg, der durch solche Methoden erreicht wird, ist gewiß zeitweilig und nur für einen weniger intelligenten Menschen geeignet. So lautet das Urteil - der Bhagavad-gītā (7.23).Kein geistig gesunder Mensch sollte sich mit solch vorübergehenden Segnungen zufriedengeben.

Keiner der oben erwähnten drei religiösen Pfade kann uns von den drei Leiden des materiellen Daseins befreien, nämlich den Leiden, die durch den Körper und Geist verursacht werden; Leiden, die durch andere Lebewesen hervorgerufen werden, und Leiden, die durch die Halbgötter verursacht werden. Doch der Vorgang der Religion, wie er im Śrīmad-Bhāgavatam beschrieben wird, vermag seinen Nachfolgern fortdauernde Befreiung von diesen drei Leiden zu gewähren. Das Bhāgavatam beschreibt die höchste Form der Religion als die Wiedereinsetzung des Lebewesens in seine ursprüngliche Stellung des transzendentalen liebevollen Dienstes für den Höchsten Herrn, die frei ist von den Infektionen der Wünsche nach Sinnenbefriedigung, fruchttragender Arbeit und der Kultivierung von Wissen mit dem Ziel, in das Absolute einzugehen, um mit dem Höchsten Herrn eins zu werden.

Jeder Vorgang der Religiosität, der auf Sinnenbefriedigung — in grober oder subtiler Form — beruht, muß als anmaßende Religion betrachtet werden, da es ihr nicht möglich ist, ihren Anhängern immerwährenden Schutz zu gewähren. Das Wort projjhita ist bedeutsam. Pra bedeutet "vollständig", und ujjhita bedeutet "Ablehnung". Religiosität in Form von fruchttragender Arbeit ist direkt eine Methode, grobe Sinnenbefriedigung zu erlangen, wohingegen der Vorgang, spirituelles Wissen zu kultivieren mit der Absicht, mit dem Absoluten eins zu werden, eine Methode subtiler Sinnenbefriedigung ist. Alle diese anmaßenden Religionen, die auf grober oder subtiler Sinnenbefriedigung beruhen, werden von dem Vorgang des bhāgavata-dharma oder der transzendentalen Religion, die eine ewige Aufgabe für das Lebewesen ist, entschieden abgelehnt.

Bhāgavata-dharma oder das religiöse Prinzip, das im Śrīmad-Bhāgavatam beschrieben wird, zu dem die Bhagavad-gītā eine einleitende Studie ist, ist für befreite Personen höchsten Ranges bestimmt, die der Sinnenbefriedigung anmaßender Religiosität wenig Wert beimessen. Die erste und dringlichste Sorge fruchtbringender Arbeiter; derer, die sich erheben wollen; empirischer Philosophen und der nach Erlösung Strebenden ist es, ihre materielle Stellung anzuheben. Gottgeweihte dagegen hegen keine selbstsüchtigen Wünsche dieser Art.

Sie dienen dem Höchsten Herrn nur, um Ihn zufriedenzustellen. Śrī Arjuna, der seine Sinne dadurch befriedigen wollte, daß er ein sogenannter gewaltloser und frommer Mensch wurde, beschloß zunächst, nicht zu kämpfen. Als er aber mit den Prinzipien des bhāgavata-dharma völlig vertraut war, die in völliger Ergebung gegenüber dem Willen des Herrn gipfeln, änderte er seine Entscheidung und war bereit, für die Befriedigung des Herrn zu kämpfen. Er sagte dann:

Naṣṭo moḥaḥ smṛtir labdhā
tvat-prasādān mayācyuta
sthito ’smi gata-sandehaḥ
kariṣye vacanaṁ tava

"Mein lieber Kṛṣṇa, o Unfehlbarer, meine Illusion ist jetzt von mir gewichen. Ich habe meine Erinnerung durch Deine Gnade wiedererlangt und bin jetzt gefestigt und frei von Zweifeln. Ich bin bereit, nach Deinen Anweisungen zu handeln." (Bg. 18.73)

Es ist die wesenseigene Stellung des Lebewesens, in diesem reinen Bewußtsein verankert zu sein. Jeder sogenannte religiöse Vorgang, der mit dieser unverfälschten spirituellen Stellung des Lebewesens in Widerspruch gerät, muß deshalb als anmaßender Vorgang der Religiosität angesehen werden.

Die wirkliche Form der Religiosität ist spontaner liebevoller Dienst für Gott. Diese dienende Beziehung des Lebewesens zur Absoluten Persönlichkeit Gottes ist ewig. Die Persönlichkeit Gottes wird als vastu, die Substanz, und die Lebewesen werden als vāstavas, die unzähligen Musterexemplare der Substanz in relativer Existenz beschrieben. Die Beziehung dieser substantiellen Teile zur Höchsten Substanz kann nie vernichtet werden, denn sie ist eine ewige Eigenschaft des Lebewesens.

Durch die Berührung mit der materiellen Natur entwickeln die Lebewesen verschiedene Symptome der Krankheit des materiellen Bewußtseins. Diese materielle Krankheit zu heilen, ist das höchste Ziel menschlichen Lebens. Der Vorgang, diese Krankheit zu behandeln, wird als bhāgavata-dharma oder sanātana-dharma (wirkliche Religion) bezeichnet. Das wird im Śrīmad-Bhāgavatam beschrieben. Jeder, der dank seiner frommen Handlungen in vorangegangenen Leben begierig ist zu hören, erkennt daher unmittelbar die Gegenwart des Höchsten Herrn in seinem Herzen und erfüllt die Mission seines Lebens.