Originale Bhagavad-gita wie sie ist - 1974 Edition

Krishna und Arjuna auf dem Schlachtfeld von Kurukshetra

Original Version 1. Auflage 1974 - von A.C. Bhaktivedanta Swami Prabhupada

- Bhagavad-gītā - Wie Sie Ist -


Fünftes Kapitel
Karma-yoga – Handeln im Kṛṣṇa-Bewußtsein


VERS 1

अर्जुन उवाच ।
संन्यासं कर्मणां कृष्ण पुनर्योगञ्च शंससि ।
यच्छ्रेय एतयोरेकं तन्मे ब्रूहि सुनिश्चितम् ॥१॥

arjuna uvāca
sannyāsaṁ karmaṇāṁ kṛṣṇa
punar yogaṁ ca śaṁsasi
yac chreya etayor ekaṁ
tan me brūhi suniścitam

arjunaḥ uvāca – Arjuna sagte; sannyāsam – Entsagung; karmaṇām – aller Aktivitäten; kṛṣṇa – O Kṛṣṇa; punaḥ – wieder; yogam – hingebungsvolles Dienen; ca – auch; śaṁsasi – Du lobst; yat – was; śreyaḥ – nützlich ist; etayoḥ – von diesen beiden; ekam – eines; tat – daß; me – mir; brūhi – bitte sage; suniścitam – genau.

ÜBERSETZUNG

Arjuna sagte: O Kṛṣṇa, erst bittest Du mich, allen Handlungen zu entsagen, und dann wieder empfiehlst Du mir, in Hingabe zu handeln. Würdest Du mir bitte eindeutig sagen, welcher Weg der bessere ist?

ERKLÄRUNG

In diesem Fünften Kapitel der Bhagavad-gītā sagt der Herr, daß Handeln im hingebungsvollen Dienen besser ist als trockene, gedankliche Spekulation. Hingebungsvolles Dienen ist einfacher als Spekulieren, denn durch seinen transzendentalen Charakter befreit es die bedingte Seele von allen Reaktionen. Im Zweiten Kapitel wurde das vorbereitende Wissen über die Seele und ihre Verstrickung in den materiellen Körper erklärt. Auch wurde dort erklärt, wie man sich durch buddhi-yoga bzw. hingebungsvolles Dienen aus dieser materiellen Gefangenschaft befreien kann. Im Dritten Kapitel wurde erklärt, daß ein Mensch, der sich auf der Ebene des Wissens befindet, keine Pflichten mehr zu erfüllen hat. Und im Vierten Kapitel sagte der Herr zu Arjuna, daß alle als Opfer ausgeführten Handlungen im Wissen enden. Am Ende des Vierten Kapitels jedoch gab der Herr Arjuna den Rat, aufzuwachen und zu kämpfen, da er nun im vollkommenen Wissen verankert sei. Weil Kṛṣṇa gleichzeitig die Bedeutung von hingebungsvollem Dienen und Nicht-Handeln im Wissen hervorhob, hat Er Arjuna verwirrt und seine Entschlossenheit ins Wanken gebracht. Arjuna versteht, daß Entsagung im Wissen bedeutet, alle Tätigkeiten zu beenden, die der Sinnesbefriedigung dienen. Aber wie kann man aufhören zu handeln, wenn man Arbeit im hingebungsvollen Dienen verrichtet? Mit anderen Worten, er glaubt, daß sannyāsam, das heißt Entsagung im Wissen, völlig frei von jeglicher Aktivität sein soll, weil ihm Handeln und Entsagung unvereinbar erscheinen. Er scheint nicht verstanden zu haben, daß Handeln im vollkommenen Wissen keine Reaktionen zur Folge hat und daher das gleiche ist wie Nicht-Handeln. Er fragt deshalb, ob er ganz und gar aufhören solle, seine Arbeit zu verrichten oder ob es besser sei, im vollkommenen Wissen zu handeln.

VERS 2

श्रीभगवानुवाच ।
संन्यासः कर्मयोगश्च निःश्रेयसकरावुभौ ।
तयोस्तु कर्मसंन्यासात्कर्मयोगो विशिष्यते ॥२॥

śrī bhagavān uvāca
sannyāsaḥ karma-yogaś ca
niḥśreyasa-karāv ubhau
tayos tu karma-sannyāsāt
karma-yogo viśiṣyate

śrī bhagavān uvāca – der Persönliche Gott sagte; sannyāsaḥ – Entsagung des Handelns; karma-yogaḥ – Handeln in Hingabe; ca – auch; niḥśreyasa-karau – sie alle führen auf den Pfad der Befreiung; ubhau – beide; tayoḥ – von beiden; tu – aber; karma-sannyāsāt – im Vergleich der Entsagung fruchtbringender Handlungen; karma-yogaḥ – Handeln in Hingabe; viśiṣyate – ist besser.

ÜBERSETZUNG

Der Höchste Herr sagte: Sowohl Entsagung der Arbeit als auch Handeln in Hingabe führen zur Befreiung, doch ist es besser, sich im hingebungsvollen Dienen zu beschäftigen, als allem Tun zu entsagen.

ERKLÄRUNG

Fruchtbringende Aktivitäten (das Streben nach Sinnesbefriedigung) sind die Ursache für die Gefangenschaft in der materiellen Welt. Solange man Aktivitäten ausführt, die das Ziel haben, die körperlichen Annehmlichkeiten zu verbessern, muß man unweigerlich von einem Körper zum anderen wandern und damit seine Gefangenschaft in der Materie unaufhörlich fortsetzen. Das Śrīmad-Bhāgavatam bestätigt dies wie folgt:

nūnaṁ pramattaḥ kurute vikarma yad-indriya-prītaya āpṛṇoti
na sādhu manye yata ātmano ’yam asann api kleśada āsa dehaḥ

parābhavas tāvad abodha-jāto yāvanna jijñāsata ātma-tattvam
yāvat kriyās tāvad idaṁ mano vai karmātmakaṁ yena śarīra-bandhaḥ

evaṁ manaḥ karma vaśaṁ prayuṅkte avidyayātmany upadhīyamāne
prītir na yāvan mayi vāsudeve na mucyate deha-yogena tāvat

„Die Menschen sind verrückt nach Sinnesbefriedigung und wissen nicht, daß ihr gegenwärtiger, von Leid erfüllter Körper das Ergebnis fruchtbringender Aktivitäten der Vergangenheit ist. Obwohl dieser Körper zeitweilig ist, bereitet er uns doch ständig in vieler Hinsicht Schwierigkeiten. Deshalb ist es nicht gut, zur Sinnesbefriedigung zu handeln. Man hat im Leben versagt, wenn man keine Fragen über das Wesen fruchtbringender Handlungen stellt; denn solange man in Sinnesbefriedigung vertieft ist, ist man gezwungen, von einem Körper zum anderen zu wandern. Obwohl der Geist in fruchtbringende Aktivitäten versunken und von Unwissenheit beeinflußt ist, muß man dennoch Liebe für den hingebungsvollen Dienst Vāsudevas entwickeln. Nur dann hat man die Möglichkeit, von der Fessel des materiellen Daseins frei zu werden.“ (Bhāg. 5.5.4–6)

Deshalb reicht jñāna (das Wissen, daß man nicht der materielle Körper, sondern spirituelle Seele ist) nicht aus, um Befreiung zu erlangen. Man muß als spirituelle Seele handeln, sonst gibt es kein Entkommen aus der materiellen Gefangenschaft. Handeln im Kṛṣṇa-Bewußtsein ist jedoch kein Handeln auf der fruchtbringenden Ebene. Aktivitäten, die im vollkommenen Wissen ausgeführt werden, stärken den Fortschritt eines Menschen in wirklichem Wissen. Ohne Kṛṣṇa-Bewußtsein kann die bloße Entsagung fruchtbringender Aktivitäten das Herz einer bedingten Seele nicht wirklich reinigen. Solange das Herz nicht gereinigt ist, muß man auf der fruchtbringenden Ebene handeln. Aber Handeln im Kṛṣṇa-Bewußtsein hilft einem Menschen automatisch, dem Ergebnis fruchtbringender Handlungen zu entgehen, so daß man nicht auf die materielle Ebene herabzusteigen braucht. Daher ist Handeln im Kṛṣṇa-Bewußtsein der Entsagung stets überlegen, da Entsagung immer mit der Gefahr verbunden ist, wieder herunterzufallen. Wie von Śrīla Rūpa Gosvāmī im Bhakti-rasāmṛta-sindhu bestätigt wird, ist Entsagung ohne Kṛṣṇa-Bewußtsein unvollkommen:

prāpañcikatayā buddhyā hari-sambandhi-vastunaḥ
mumukṣubhiḥ parityāgo vairāgyaṁ phalgu kathyate.

„Wenn Menschen danach streben, von Dingen befreit zu werden, die, obwohl sie materiell sind, mit dem Höchsten Persönlichen Gott verbunden sind, so wird dies unvollkommene Entsagung genannt.“

Entsagung ist vollständig, wenn sie in dem Wissen gründet, daß alles Existierende dem Herrn gehört und daß daher niemand irgend etwas als sein Eigentum beanspruchen sollte. Man sollte verstehen, daß in Wirklichkeit niemandem etwas gehört. Wie kann dann überhaupt die Frage nach Entsagung aufkommen? Wer weiß, daß alles das Eigentum Kṛṣṇas ist, ist immer entsagt. Da alles Kṛṣṇa gehört, sollte alles in den Dienst Kṛṣṇas gestellt werden. Diese vollkommene Handlungsweise im Kṛṣṇa-Bewußtsein ist weitaus besser als jedes Maß an künstlicher Entsagung durch einen sannyāsī der Māyāvādī-Schule.

VERS 3

ज्ञेयः स नित्यसंन्यासी यो न द्वेष्टि न काङ्क्षति ।
निर्द्वन्द्वो हि महाबाहो सुखं बन्धात्प्रमुच्यते ॥३॥

jñeyaḥ sa nitya-sannyāsī
yo na dveṣti na kāṅkṣati
nirdvandvo hi mahā-bāho
sukhaṁ bandhāt pramucyate

jñeyaḥ – sollte angesehen werden; saḥ – er; nitya – immer; sannyasī – ein Mensch, der entsagt; yaḥ – der; na – niemals; dveṣṭi – haßt; na – auch nicht; kāṅkṣati – begehrt; nirdvandvaḥ – frei von allen Dualitäten; hi – gewiß; mahā-bāho – O Starkarmiger; sukham – glücklich; bandhāt – von der Fessel; pramucyate – völlig befreit.

ÜBERSETZUNG

O starkarmiger Arjuna, wer die Früchte seiner Aktivitäten weder haßt noch begehrt, ist immer entsagungsvoll. Solch ein Mensch, frei von allen Dualitäten, löst leicht die materielle Fessel und ist völlig befreit.

ERKLÄRUNG

Wer im Kṛṣṇa-Bewußtsein fest verankert ist, ist immer entsagungsvoll, weil er die Ergebnisse seines Handelns weder haßt noch begehrt. Solch ein entsagungsvoller Mensch, der sich dem transzendentalen liebevollen Dienst des Herrn weiht, verfügt über vollkommenes Wissen, da er seine wesenseigene Position in Beziehung zu Kṛṣṇa kennt. Er weiß sehr wohl, daß Kṛṣṇa das Ganze und daß er ein winziges Bestandteil Kṛṣṇas ist. Solches Wissen ist vollkommen, da es qualitativ und quantitativ im richtigen Verhältnis steht. Die Vorstellung des Einsseins mit Kṛṣṇa ist falsch, weil das Teil niemals gleich dem vollkommenen Ganzen sein kann. Das Wissen, in Qualität mit Kṛṣṇa eins, in Quantität jedoch verschieden von Ihm zu sein, ist wahres transzendentales Wissen, das einen Menschen zu innerer Erfüllung führt, so daß er nach nichts mehr strebt und über nichts mehr zu klagen hat. In seinem Geist gibt es keine Dualität, da er alles, was er tut, für Kṛṣṇa tut. Wenn er auf diese Weise von der Ebene der Dualitäten frei geworden ist, ist er befreit – selbst wenn er sich noch in der materiellen Welt befindet.

VERS 4

साङ्ख्ययोगौ पृथग्बालाः प्रवदन्ति न पण्डिताः ।
एकमप्यास्थितः सम्यगुभयोर्विन्दते फलम् ॥४॥

sāṅkhya-yogau pṛthag bālāḥ
pravadanti na paṇḍitāḥ
ekam apy āsthitaḥ samyag
ubhayor vindate phalam

sāṅkhya – analytisches Studium der materiellen Welt; yogau – Handeln im hingebungsvollen Dienen; pṛthak – verschieden; bālāḥ – weniger intelligent; pravadanti – reden; na – niemals; paṇḍitāḥ – die Gelehrten; ekam – in einem; api – selbst obwohl; āsthitaḥ – sich befinden; samyak – vollständig; ubhayoḥ – beider; vindate – genießt; phalam – Ergebnis.

ÜBERSETZUNG

Nur die Unwissenden behaupten, karma-yoga und hingebungsvolles Dienen würden sich vom analytischen Studium der materiellen Welt [sāṅkhya] unterscheiden. Die Weisen jedoch erklären, daß einer, der sich einem dieser Pfade eingehend widme, das Ziel beider erreiche.

ERKLÄRUNG

Das Ziel des analytischen Studiums der materiellen Welt besteht darin, die Seele der Existenz zu finden. Die Seele der materiellen Welt ist Viṣṇu, die Überseele. Dem Herrn in Hingabe zu dienen bedeutet, der Überseele zu dienen. Der erste Schritt besteht darin, die Wurzel des Baumes zu finden, und der zweite, sie zu bewässern. Der wirkliche Schüler der sāṅkhya-Philosophie findet die Wurzel der materiellen Welt (Viṣṇu), und daraufhin – im vollkommenen Wissen – beschäftigt er sich im Dienst des Herrn. Deshalb besteht im Grunde kein Unterschied zwischen diesen beiden Pfaden, denn das Ziel beider ist Viṣṇu. Diejenigen, die das endgültige Ziel nicht kennen, behaupten, das Ziel des sāṅkhya und das des karma-yoga sei nicht das gleiche. Wer jedoch gelehrt ist, kennt das gemeinsame Ziel dieser verschiedenen Vorgänge.

VERS 5

यत्साङ्ख्यैः प्राप्यते स्थानं तद्योगैरपि गम्यते ।
एकं साङ्ख्यं च योगञ्च यः पश्यति स पश्यति ॥५॥

yat sāṅkhyaiḥ prāpyate sthānaṁ
tad yogair api gamyate
ekaṁ sāṅkhyaṁ ca yogaṁ ca
yaḥ paśyati sa paśyati

yat – was; sāṅkhyaiḥ – mit Hilfe der sāṅkhya-Philosophie; prāpyate – erreicht wird; sthānam – Stelle; tat – daß; yogaiḥ – durch hingebungsvolles Dienen; api – auch; gamyate – kann man erreichen; ekam – jemand; sāṅkhyam – analytisches Studium; ca – und; yogam – Handeln in Hingabe; ca – und; yaḥ – jemand, der; paśyati – sieht; saḥ – er; paśyati – sieht wirklich.

ÜBERSETZUNG

Wer versteht, daß die Stufe, die man durch Entsagung erreicht, auch durch Arbeit im hingebungsvollen Dienen erlangt werden kann, und wer daher erkennt, daß der Pfad der Arbeit und der Pfad der Entsagung eins sind, sieht die Dinge, wie sie wirklich sind.

ERKLÄRUNG

Der wirkliche Zweck philosophischen Forschens besteht darin, das endgültige Ziel des Lebens zu finden. Da das endgültige Ziel des Lebens Selbstverwirklichung ist, gibt es keinen Unterschied zwischen den beiden Schlußfolgerungen, zu denen man durch beide Vorgänge kommt. Durch die philosophische Suche des sāṅkhya kommt man zu der Schlußfolgerung, daß ein Lebewesen nicht ein Bestandteil der materiellen Welt, sondern ein Teil des Höchsten Spirituellen Ganzen ist. Aus diesem Grunde hat die spirituelle Seele nichts mit der materiellen Welt zu tun; ihre Handlungen müssen in irgendeiner Weise in Beziehung zum Höchsten stehen. Wenn sie im Kṛṣṇa-Bewußtsein handelt, befindet sie sich in ihrer wesenseigenen Position. Durch den Vorgang des sāṅkhya muß man sich von der Materie lösen, und durch den Vorgang des hingebungsvollen yoga muß man eine Anhaftung an den Dienst Kṛṣṇas entwickeln. In Wirklichkeit sind beide Vorgänge gleich, obwohl der eine oberflächlich betrachtet Loslösung und der andere anscheinend Anhaftung bedeutet. Loslösung von Materie und Haften an Kṛṣṇa sind jedoch ein und dasselbe. Wer dies verstehen kann, sieht die Dinge, wie sie sind.

VERS 6

संन्यासस्तु महाबाहो दुःखमाप्तुमयोगतः ।
योगयुक्तो मुनिर्ब्रह्म न चिरेणाधिगच्छति ॥६॥

sannyāsas tu mahā-bāho
duḥkham āptum ayogataḥ
yoga-yukto munir brahma
na cireṇādhigacchati

sannyāsaḥ – die Lebensstufe der Entsagung; tu – aber; mahā-bāho – O Starkarmiger; duḥkham – Leid; āptum – leiden an; ayogataḥ – ohne hingebungsvolles Dienen; yoga-yuktaḥ – jemand, der im hingebungsvollen Dienen beschäftigt ist; muniḥ – Denker; brahma – der Höchste; na – oder; cireṇa – Zeitverlust; adhigacchati – erreicht.

ÜBERSETZUNG

Solange man nicht im hingebungsvollen Dienst des Herrn beschäftigt ist, kann man durch bloße Entsagung der Aktivitäten nicht glücklich werden. Die Weisen, die durch Werke in Hingabe gereinigt worden sind, erreichen den Höchsten ohne Verzögerung.

ERKLÄRUNG

Es gibt zwei Gruppen von sannyāsīs, das heißt Menschen, die sich auf der Lebensstufe der Entsagung befinden. Die Māyāvādī-sannyāsīs sind mit dem Studium der sāṅkhya-Philosophie beschäftigt, wohingegen die Vaiṣṇava-sannyāsīs die Bhāgavatam-Philosophie studieren, die den maßgebenden Kommentar zu den Vedānta-sūtras bildet. Auch die Māyāvādī-sannyāsīs studieren die Vedānta-sūtras, aber sie benutzen ihren eigenen Kommentar (Śārīraka-bhāṣya), der von Śaṅkarācārya verfaßt wurde. Die Schüler der Bhāgavata-Schule beschäftigen sich entsprechend den pāñcarātrikī-Regulierungen im hingebungsvollen Dienst des Herrn, und daher gehen die Vaiṣṇava-sannyāsīs in Seinem transzendentalen Dienst vielfältigen Beschäftigungen nach. Die Vaiṣṇava-sannyāsīs haben nichts mit materiellen Aktivitäten zu tun, und dennoch verrichten sie verschiedenartige Tätigkeiten in ihrem hingebungsvollen Dienst. Die Māyāvādī-sannyāsīs hingegen, die sich mit dem Studium der sāṅkhya-Philosophie, mit dem Vedānta und mit Spekulation beschäftigen, können am transzendentalen Dienst des Herrn keine Freude finden. Weil ihre Studien mit der Zeit sehr langweilig werden, werden sie es leid, über das Brahman zu spekulieren, und suchen deshalb beim Bhāgavatam Zuflucht, ohne es richtig verstehen zu können. Folglich wird es für sie sehr schwierig, das Śrīmad-Bhāgavatam zu studieren. Trockene Spekulationen und unpersönliche Interpretationen mit künstlichen Mitteln helfen den Māyāvādī-sannyāsīs nicht weiter. Die Vaiṣṇava-sannyāsīs, die im hingebungsvollen Dienst beschäftigt sind, sind in der Erfüllung ihrer transzendentalen Pflichten glücklich und haben die Garantie, letztlich in das Königreich Gottes einzugehen. Die Māyāvādī-sannyāsīs fallen manchmal vom Pfad der Selbstverwirklichung herunter und wenden sich wieder philanthropischen und altruistischen Aktivitäten zu, die nichts weiter als materielle Beschäftigungen sind. Man kann daher den Schluß ziehen, daß sich diejenigen, die im Kṛṣṇa-Bewußtsein beschäftigt sind, in einer glücklicheren Lage befinden als die sannyāsīs, die nur über das Brahman spekulieren, obwohl auch sie nach vielen Geburten zum Kṛṣṇa-Bewußtsein kommen.

VERS 7

योगयुक्तो विशुद्धात्मा विजितात्मा जितेन्द्रियः ।
सर्वभूतात्मभूतात्मा कुर्वन्नपि न लिप्यते ॥७॥

yoga-yukto viśuddhātmā
vijitātmā jitendriyaḥ
sarvabhūtātmabhūtātmā
kurvann api na lipyate

yoga-yuktaḥ – im hingebungsvollen Dienen beschäftigt; viśuddha-ātmā – eine gereinigte Seele; vijita-ātmā – selbstkontrolliert; jita-indriyaḥ – nachdem sie die Sinne besiegt hat; sarvabhūta-ātmabhūta-ātmā – mitleidig mit allen Lebewesen; kurvan api – obwohl mit Arbeit beschäftigt; na – niemals; lipyate – ist verstrickt.

ÜBERSETZUNG

Wer in Hingabe handelt, eine reine Seele ist und Geist und Sinne kontrolliert, ist jedem ein Freund, und jeder ist ihm lieb. Obwohl ein solcher Mensch stets handelt, ist er niemals verstrickt.

ERKLÄRUNG

Wer sich auf dem Pfad der Befreiung befindet, ist jedem Lebewesen sehr lieb, und jedes Lebewesen ist ihm lieb. Dies ist auf sein Kṛṣṇa-Bewußtsein zurückzuführen. Ein solcher Mensch sieht kein Lebewesen getrennt von Kṛṣṇa, ähnlich wie er auch die Blätter und Zweige eines Baumes nicht vom Baum getrennt sieht. Er weiß sehr wohl, daß das Wasser, das man auf die Wurzel des Baumes gießt, an alle Blätter und Zweige weitergegeben wird bzw. daß die Nahrung, die man dem Magen zuführt, als Energie automatisch im gesamten Körper verteilt wird. Weil ein Mensch, der im Kṛṣṇa-Bewußtsein handelt, allen Wesen dient, ist er jedem sehr lieb. Und weil jeder durch sein Handeln zufrieden ist, befindet er sich in reinem Bewußtsein. Weil sein Bewußtsein rein ist, ist sein Geist völlig kontrolliert. Und weil sein Geist kontrolliert ist, sind auch seine Sinne kontrolliert. Weil sein Geist stets auf Kṛṣṇa gerichtet ist, besteht nicht die Möglichkeit, daß er sich von Kṛṣṇa entfernt. Ebenso unmöglich ist es, daß er seine Sinne in anderer Weise beschäftigt, als im Dienst des Herrn. Er möchte nichts anderes hören, als Inhalte, die mit Kṛṣṇa verbunden sind; er möchte nichts essen, was nicht zu Kṛṣṇa geopfert ist, und er möchte nirgendwo hingehen, wenn Kṛṣṇa nicht mit einbezogen ist. Deshalb sind seine Sinne kontrolliert. Ein Mensch mit kontrollierten Sinnen wird niemanden verletzen. Man mag sich nun fragen: warum wollte dann Arjuna (in der Schlacht) gegen andere kämpfen? War er nicht Kṛṣṇa-bewußt? Es schien nur so, daß Arjuna verletzte, denn (wie bereits im Zweiten Kapitel erklärt worden ist) alle Menschen, die auf dem Schlachtfeld versammelt waren, lebten individuell weiter, weil die Seele niemals erschlagen werden kann. Spirituell gesehen, wurde niemand auf dem Schlachtfeld von Kurukṣetra getötet. Auf den Beschluß Kṛṣṇas hin, der persönlich anwesend war, wurden nur die äußeren Gewänder gewechselt. Deshalb kämpfte Arjuna in Wirklichkeit nicht, während er auf dem Schlachtfeld von Kurukṣetra kämpfte; er führte nur in völligem Kṛṣṇa-Bewußtsein die Anweisungen Kṛṣṇas aus. Solch ein Mensch ist niemals in die Reaktionen auf seines Handeln verstrickt.

VERS 8–9

नैव किञ्चित्करोमीति युक्तो मन्येत तत्त्ववित् ।
पश्यन्शृण्वन्स्पृशन्जिघ्रन्नश्नन्गच्छन्स्वपन्श्वसन् ॥८॥

प्रलपन्विसृजन्गृह्णन्नुन्मिषन्निमिषन्नपि ।
इन्द्रियाणीन्द्रियार्थेषु वर्त्तन्त इति धारयन् ॥९॥

naiva kiñcit karomīti
yukto manyeta tattva-vit
paśyañ śṛṇvan spṛśañ jighrann
aśnan gacchan svapan śvasan

pralapan visṛjan gṛhṇann
unmiṣan nimiṣann api
indriyāṇīndriyārtheṣu
vartanta iti dhārayan

na – niemals; eva – gewiß; kiñcit – irgend etwas; karomi – tue ich; iti – somit; yuktaḥ – im göttlichen Bewußtsein beschäftigt; manyeta – denkt; tattvavit – wer die Wahrheit kennt; paśyan – durch Sehen; śṛṇvan – durch Hören; spṛśan – durch Berühren; jighran – durch Riechen; aśnan – durch Essen; gacchan – durch Gehen; svapan – durch Träumen; śvasan – durch Atmen; pralapan – durch Reden; visṛjan – durch Aufgeben; gṛhṇan – durch Akzeptieren; unmiṣan – öffnend; nimiṣan – schließend; api – trotz; indriyāṇi – die Sinne; indriya-artheṣu – in Sinnesbefriedigung; vartante – laß sie auf diese Weise beschäftigt sein; iti – so; dhārayan – in Betracht ziehen.

ÜBERSETZUNG

Ein Mensch mit göttlichem Bewußtsein weiß im Innern stets, daß er in Wirklichkeit nicht handelt, obwohl er sieht, hört, berührt, riecht, ißt, sich bewegt, schläft und atmet. Denn während er spricht, sich entleert, etwas zu sich nimmt, seine Augen öffnet oder schließt, weiß er immer, daß nur die materiellen Sinne mit ihren Objekten beschäftigt sind, und daß er davon nicht berührt wird.

ERKLÄRUNG

Die Existenz eines Menschen im Kṛṣṇa-Bewußtsein ist rein, und folglich hat er nichts mit Handlungen zu tun, die von fünf direkten und indirekten Ursachen abhängen: dem Handelnden, der Handlung, den Umständen, dem Bemühen und dem Glück. Er wird nicht davon berührt, weil er im liebenden transzendentalen Dienst Kṛṣṇas beschäftigt ist. Obwohl er dem Anschein nach mit seinem Körper und seinen Sinnen handelt, ist er sich immer seiner wirklichen Position bewußt, die darin besteht, spirituelle Aktivitäten auszuführen. Im materiellen Bewußtsein sind die Sinne mit Sinnesbefriedigung beschäftigt, doch im Kṛṣṇa-Bewußtsein sind die Sinne damit beschäftigt, Kṛṣṇas Sinne zufriedenzustellen. Deshalb ist ein Kṛṣṇa-bewußter Mensch stets frei, obwohl es so scheint, als sei er mit den Sinnesobjekten beschäftigt. Aktivitäten wie Sehen, Hören, Sprechen, Sich-Entleeren usw. sind Handlungen der Sinne, durch die alle Aktivitäten ausgeführt werden. Ein Kṛṣṇa-bewußter Mensch wird niemals von den Handlungen der Sinne beeinflußt. Er kann nichts anderes tun, als im Dienste des Herrn handeln, da er weiß, daß er der ewige Diener des Herrn ist.

VERS 10

ब्रह्मण्याधाय कर्माणि सङ्गं त्यक्त्वा करोति यः ।
लिप्यते न स पापेन पद्मपत्रमिवाम्भसा ॥१०॥

brahmaṇy ādhāya karmāṇi
saṅgaṁ tyaktvā karoti yaḥ
lipyate na sa pāpena
padma-patram ivāmbhasā

brahmaṇi – der Höchste Persönliche Gott; ādhāya – hingeben zu; karmāṇi – alles Handeln; saṅgam – Anhaftung; tyaktvā – aufgeben; karoti – führt aus; yaḥ – der; lipyate – wird beeinflußt; na – niemals; saḥ – er; pāpena – durch Sünde; padma-patram – Lotusblatt; iva – wie; ambhasā – im Wasser.

ÜBERSETZUNG

Wer seine Pflicht ohne Anhaftung erfüllt und die Ergebnisse dem Höchsten Gott hingibt, wird gleich einem Lotusblatt, das vom Wasser nicht berührt wird, von sündhaften Reaktionen nicht beeinflußt.

ERKLÄRUNG

Brahmaṇi bedeutet hier: im Kṛṣṇa-Bewußtsein. Die materielle Welt ist eine vollständige Manifestation der drei Erscheinungsweisen der materiellen Natur und wird pradhāna genannt. Die vedischen Hymnen, „sarvam etad brahma“, „tasmād etad brahma nāma-rūpam annaṁ ca jāyate“ und in der Bhagavad-gītā ,,mama yonir mahad brahma“ weisen darauf hin, daß alles in der materiellen Welt die Manifestation des Brahman ist, und obwohl die Auswirkungen unterschiedlich manifestiert sind, so sind sie dennoch nicht von der Ursache verschieden. In der Īśopaniṣad wird gesagt, daß alles mit dem Höchsten Brahman bzw. Kṛṣṇa verbunden ist und daß daher alles Ihm allein gehört. Wer sich voll und ganz der Tatsache bewußt ist, daß alles Kṛṣṇa gehört, daß Er der Besitzer alles Existierenden ist und daß deshalb alles im Dienst des Herrn beschäftigt werden sollte, hat nichts mit den Ergebnissen seiner Aktivitäten zu tun – ganz gleich ob sie tugendhaft oder sündhaft sind. Selbst sein materieller Körper kann im Kṛṣṇa-Bewußtsein beschäftigt werden, denn er ist ihm vom Herrn gegeben worden, um in bestimmter Weise zu handeln. Im Kṛṣṇa-Bewußtsein wird der Körper nicht von sündhaften Reaktionen verunreinigt, wie auch ein Lotusblatt nicht benetzt wird, obwohl es sich im Wasser befindet. Der Herr sagt in der Gītā auch:

mayi sarvāṇi karmāṇi sannyasya

„Gib all dein Tun Mir hin.“

Die Schlußfolgerung lautet, daß ein Mensch ohne Kṛṣṇa-Bewußtsein auf der Ebene des materiellen Körpers und der Sinne aktiv ist, wohingegen ein Kṛṣṇa-bewußter Mensch in dem Wissen handelt, daß der Körper das Eigentum Kṛṣṇas ist und deshalb im Dienste Kṛṣṇas beschäftigt werden sollte.

VERS 11

कायेन मनसा बुद्ध्या केवलैरिन्द्रियैरपि ।
योगिनः कर्म कुर्वन्ति सङ्गं त्यक्त्वात्मशुद्धये ॥११॥

kāyena manasā buddhyā
kevalair indriyair api
yoginaḥ karma kurvanti
saṅgaṁ tyaktvātma-śuddhaye

kāyena – mit dem Körper; manasā – mit dem Geist; buddhyā – mit der Intelligenz; kevalaiḥ – gereinigt; indriyaiḥ – mit den Sinnen; api – sogar mit; yoginaḥ – die Kṛṣṇa-bewußten Menschen; karma – Handlungen; kurvanti – sie handeln; saṅgam – Anhaftung; tyaktva – aufgeben; ātma – Selbst; śuddhaye – um gereinigt zu werden.

ÜBERSETZUNG

Die yogis, die sich von jeder Anhaftung lösen, handeln mit Körper, Geist, Intelligenz und Sinnen einzig und allein, um gereinigt zu werden.

ERKLÄRUNG

Wenn man im Kṛṣṇa-Bewußtsein für die Zufriedenstellung der Sinne Kṛṣṇas handelt, wird jede Handlung des Körpers, des Geistes, der Intelligenz und sogar der Sinne von der materiellen Verschmutzung gereinigt. Auf die Aktivitäten eines Kṛṣṇa-bewußten Menschen folgen keine materiellen Reaktionen. Wenn man daher im Kṛṣṇa-Bewußtsein handelt, kann man sehr leicht gereinigte Aktivitäten (sadācāra) ausführen. Śrīla Rūpa Gosvāmī beschreibt dies im Bhakti-rasamṛta-sindhu wie folgt:

īhā yasya harer dāsye karmaṇā manasā girā
nikhilāsv apy avasthāsu jīvanmuktaḥ sa ucyate

„Ein Mensch, der mit Körper, Geist, Intelligenz und Worten im Kṛṣṇa-Bewußtsein (oder mit anderen Worten, im Dienste Kṛṣṇas) handelt, ist befreit – auch wenn er sich noch in der materiellen Welt befindet und sogenannten materiellen Aktivitäten nachgeht.“

Er ist frei vom falschen Ich und glaubt weder, daß er der materielle Körper ist, noch, daß er den Körper besitzt. Er weiß, daß er nicht der Körper ist und daß ihm der Körper nicht gehört. Er selbst gehört Kṛṣṇa, und auch der Körper gehört Kṛṣṇa. Wenn alles, was von Körper, Geist, Intelligenz, Worten, Leben, Reichtum usw. geschaffen wird – nämlich all das, was sich in seinem Besitz befindet – in den Dienst Kṛṣṇas gestellt wird, handelt ein solcher Mensch augenblicklich in Einklang mit Kṛṣṇa. Er ist eins mit Kṛṣṇa und frei vom falschen Ich, durch das man glaubt, der Körper zu sein. Dies ist die vollendete Stufe des Kṛṣṇa-Bewußtseins.

VERS 12

युक्तः कर्मफलं त्यक्त्वा शान्तिमाप्नोति नैष्ठिकीम् ।
अयुक्तः कामकारेण फले सक्तो निबध्यते ॥१२॥

yuktaḥ karma-phalaṁ tyaktvā
śāntim āpnoti naiṣthikīm
ayuktaḥ kāma-kāreṇa
phale sakto nibadhyate

yuktaḥ – wer im hingebungsvollen Dienen beschäftigt ist; karma-phalam – die Ergebnisse aller Aktivitäten; tyaktvā – aufgeben; śāntim – vollkommener Friede; apnoti – erreicht; naiṣthikīm – unerschütterlich; ayuktaḥ – jemand, der nicht Kṛṣṇa-bewußt ist; kāma-kāreṇa – um das Ergebnis der Arbeit zu genießen; phale – als Ergebnis; saktaḥ – angehaftet; nibadhyate – wird verstrickt.

ÜBERSETZUNG

Die fortwährend hingegebene Seele erreicht wirklichen Frieden, denn sie bringt das Ergebnis aller Aktivitäten Mir dar; doch ein Mensch, der nicht mit dem Göttlichen verbunden ist und gierig nach den Früchten seiner Arbeit strebt, wird verstrickt.

ERKLÄRUNG

Der Unterschied zwischen einem Menschen im Kṛṣṇa-Bewußtsein und einem Menschen im körperlichen Bewußtsein liegt darin, daß der erstere an Kṛṣṇa und der letztere an den Ergebnissen seiner Aktivitäten haftet. Der Mensch, der an Kṛṣṇa haftet und für Ihn allein handelt, ist sicher befreit und begehrt nicht nach den Früchten seines Tuns. Im Bhāgavatam wird erklärt, daß man sich um das Ergebnis einer Aktivität sorgt, weil man innerhalb der Auffassung von Dualität handelt, das heißt, ohne von der Absoluten Wahrheit zu wissen. Kṛṣṇa ist die Absolute Wahrheit, der Höchste Persönliche Gott, und daher gibt es im Kṛṣṇa-Bewußtsein keine Dualität. Alles Existierende ist ein Produkt der Energie Kṛṣṇas, und Kṛṣṇa ist ganz und gar gut. Deshalb befinden sich Aktivitäten im Kṛṣṇa-Bewußtsein auf der absoluten Ebene. Sie sind transzendental und haben keine materiellen Auswirkungen. Daher ist man im Kṛṣṇa-Bewußtsein von Frieden erfüllt. Wer jedoch in Profitkalkulationen zur Sinnesbefriedigung verstrickt ist, kann diesen Frieden nicht finden. Das ist das Geheimnis des Kṛṣṇa-Bewußtseins. Die Verwirklichung, daß es nichts außerhalb von Kṛṣṇa gibt, ist die Ebene für Frieden und Furchtlosigkeit.

VERS 13

सर्वकर्माणि मनसा संन्यस्यास्ते सुखं वशी ।
नवद्वारे पुरे देही नैव कुर्वन्न कारयन् ॥१३॥

sarva-karmāṇi manasā
sannyasyāste sukhaṁ vaśī
nava-dvāre pure dehī
naiva kurvan na kārayan

sarva – alle; karmāṇi – Aktivitäten; manasā – durch den Geist; sannyasya – wenn man aufgibt; āste – bleibt man; sukham – in Glück; vaśī – einer, der kontrolliert ist; nava-dvāre – an dem Ort, an dem es neun Tore gibt; pure – in der Stadt; dehī – die verkörperte Seele; na – niemals; eva – gewiß; kurvan – irgend etwas tun; na – nicht; kārayan – veranlassen zu tun.

ÜBERSETZUNG

Wenn das verkörperte Lebewesen seine Aktivitäten kontrolliert und im Geist allen Handlungen entsagt, wohnt es glücklich in der Stadt der neun Tore [dem materiellen Körper] und handelt nicht, noch veranlaßt es andere zu handeln.

ERKLÄRUNG

Die verkörperte Seele lebt in der Stadt der neun Tore. Die Aktivitäten des Körpers (oder sinnbildlich: der Stadt des Körpers) werden automatisch von den jeweiligen Erscheinungsweisen der Natur ausgeführt. Obwohl sich die Seele den Bedingungen des Körpers unterwirft, kann sie, wenn sie es wünscht, diese Bedingungen überwinden. Weil sie ihre höhere Natur vergessen hat, identifiziert sie sich mit dem materiellen Körper und leidet daher. Durch Kṛṣṇa-Bewußtsein kann sie ihre wirkliche Position wiedererwecken und auf diese Weise der körperlichen Umhüllung entkommen. Wenn man deshalb Kṛṣṇa-Bewußtsein annimmt, wird man augenblicklich von allen körperlichen Aktivitäten unabhängig. Wenn man ein solch kontrolliertes Leben führt, in dem sich die Vorstellungen gewandelt haben, lebt man glücklich in der Stadt der neun Tore. Die neun Tore werden wie folgt beschrieben:

nava-dvāre pure dehī haṁso lelāyate bahiḥ
vaśī sarvasya lokasya sthāvarasya carasya ca.

„Der Höchste Persönliche Gott, der im Körper jedes Lebewesens weilt, kontrolliert alle Lebewesen überall im Universum. Der Körper besteht aus neun Toren: zwei Augen, zwei Nasenlöchern, zwei Ohren, einem Mund, dem Anus und dem Genital. Im bedingten Zustand identifiziert sich das Lebewesen mit dem Körper, doch wenn es sich mit dem Herrn in seinem Innern identifiziert, wird es ebenso frei wie der Herr, selbst wenn es sich noch im Körper befindet.“ (Śvet. 3.18)

Deshalb ist ein Kṛṣṇa-bewußter Mensch von den äußeren und inneren Aktivitäten des materiellen Körpers frei.

VERS 14

न कर्त्तृत्वं न कर्माणि लोकस्य सृजति प्रभुः ।
न कर्मफलसंयोगं स्वभावस्तु प्रवर्त्तते ॥१४॥

na kartṛtvaṁ na karmāṇi
lokasya sṛjati prabhuḥ
na karma-phala-saṁyogaṁ
svabhāvas tu pravartate

na – niemals; kartṛtvam – Eigentum; na – auch nicht; karmāṇi – Aktivitäten; lokasya – der Menschen; sṛjati – schafft; prabhuḥ – der Herr der Stadt des Körpers; na – auch nicht; karma-phala – Ergebnisse der Aktivitäten; saṁyogam – Verbindung; svabhāvaḥ – Erscheinungsweisen der materiellen Natur; tu – aber; pravartate – handelt.

ÜBERSETZUNG

Die verkörperte Seele, die der Herr in der Stadt ihres Körpers ist, führt keine Aktivitäten aus, noch veranlaßt sie andere zu handeln, noch ist sie die Ursache für die Reaktionen, die auf ihre Handlungen folgen. All dies wird von den Erscheinungsweisen der materiellen Natur bewirkt.

ERKLÄRUNG

Wie im Siebten Kapitel erklärt wird, ist das Lebewesen dem Wesen nach eins mit dem Herrn; es unterscheidet sich von der Materie, die eine andere, niedere Natur des Herrn ist. Auf irgendeine Weise ist die höhere Natur, das Lebewesen, mit der materiellen Natur seit unvordenklichen Zeiten in Berührung. Der zeitweilige Körper bzw. der materielle Aufenthaltsort, den das Lebewesen erhält, ist die Ursache mannigfaltiger Aktivitäten und der sich daraus ergebenden Reaktionen. Wenn man in solch einer bedingten Atmosphäre lebt, erleidet man die Ergebnisse, die aus den Aktivitäten des Körpers entstehen, da man sich (aus Unwissenheit) mit dem Körper identifiziert. Die aus unvordenklichen Zeiten stammende Unwissenheit ist die Ursache körperlicher Leiden. Sobald das Lebewesen von den Aktivitäten des Körpers nicht mehr berührt wird, wird es auch von den Reaktionen frei. Solange es sich in der Stadt des Körpers befindet, scheint es Herr über sie zu sein, doch weder ist es in Wirklichkeit ihr Besitzer, noch kontrolliert es ihre Aktionen und Reaktionen. Das Lebewesen befindet sich lediglich inmitten des materiellen Ozeans und kämpft um seine Existenz. Die Wogen des Ozeans werfen es hin und her, und es hat keine Kontrolle über sie. Die beste Lösung besteht darin, durch transzendentales Kṛṣṇa-Bewußtsein aus dem Wasser herauszugelangen. Das allein wird das Lebewesen vor aller Unruhe bewahren.

VERS 15

नादत्ते कस्यचित्पापं न चैव सुकृतं विभुः ।
अज्ञानेनावृतं ज्ञानं तेन मुह्यन्ति जन्तवः ॥१५॥

nādatte kasyacit pāpaṁ
na caiva sukṛtaṁ vibhuḥ
ajñānenāvṛtaṁ jñānaṁ
tena muhyanti jantavaḥ

na – niemals; ādatte – akzeptiert; kasyacit – irgend jemandes; pāpam – Sünde; na – auch nicht; ca – auch; eva – gewiß; sukṛtam – fromme Aktivitäten; vibhuḥ – der Höchste Herr; ajñānena – von Unwissenheit; āvṛtam – bedeckt; jñānam – Wissen; tena – durch das; muhyanti – verwirrt; jantavaḥ – die Lebewesen.

ÜBERSETZUNG

Auch nimmt das Höchste Spirituelle Wesen die sündhaften oder frommen Aktivitäten des Lebewesens nicht auf Sich. Die verkörperten Wesen jedoch sind verwirrt, da Unwissenheit ihr wahres Wissen bedeckt.

ERKLÄRUNG

Das Sanskritwort vibhuḥ bezeichnet den Höchsten Herrn, der voller unbegrenzten Wissens, unbegrenzten Reichtums, unbegrenzter Stärke, unbegrenzten Ruhms, unbegrenzter Schönheit und unbegrenzter Entsagung ist. Er ist immer in Sich Selbst zufrieden und von sündigen oder frommen Aktivitäten unbeeinflußt. Für kein Lebewesen schafft Er eine besondere Situation, doch das durch Unwissenheit verwirrte Lebewesen entwickelt den Wunsch, in bestimmte Lebensumstände versetzt zu werden, und damit beginnt die Kette von Aktion und Reaktion. Weil das Lebewesen von höherer Natur ist, ist es voller Wissen. Dennoch neigt es aufgrund seiner begrenzten Kraft dazu, von Unwissenheit beeinflußt zu werden. Der Herr ist allmächtig, aber das Lebewesen ist dies nicht. Der Herr ist vibhuḥ (allwissend), das Lebewesen jedoch ist aṇu (winzig klein). Weil es eine lebendige Seele ist, hat es die Fähigkeit, nach seinem freien Willen Wünsche zu entwickeln. Solche Wünsche werden allein vom allmächtigen Herrn erfüllt, und wenn das Lebewesen nicht weiß, was seine wirklichen Wünsche sind, erlaubt der Herr ihm, seine unbewußten Wünsche zu erfüllen; doch ist Er niemals für die Aktion und Reaktion der bestimmten Situation verantwortlich, die sich das Lebewesen gewünscht hat. Da sich die verkörperte Seele in einem verwirrten Zustand befindet, identifiziert sie sich mit dem umstandsbedingten, materiellen Körper und wird somit dem zeitweiligen Leid und Glück des Lebens unterworfen. Der Herr ist als Paramātmā, als Überseele, der ständige Begleiter des Lebewesens und kann deshalb die Wünsche der individuellen Seele verstehen, ähnlich wie man den Duft einer Blume riechen kann, wenn man sich in ihrer Nähe befindet. Durch Verlangen wird das Lebewesen in subtiler Weise bedingt. Der Herr erfüllt Verlangen in dem Maße, wie es das Lebewesen verdient: der Mensch denkt, Gott lenkt. Das Individuum besitzt daher nicht die Allmacht, seine Wünsche zu erfüllen. Der Herr jedoch kann alle Wünsche erfüllen, und weil Er Sich jedem gegenüber gleich verhält, mischt Er Sich nicht in die Wünsche der winzigen, unabhängigen Lebewesen ein. Wenn jemand sich jedoch Kṛṣṇa wünscht, achtet der Herr besonders auf ihn und ermutigt ihn in solcher Weise, daß dieser Ihn erreichen und ewiglich glücklich sein kann. Die vedischen Hymnen erklären:

eṣa u hy eva sādhu karma kārayati taṁ yamebhyo lokebhya unninīṣate
eṣa u evāsādhu karma kārayati yamadho ninīṣate.

ajño jantur anīṣo ’yam ātmanaḥ sukha-duḥkhayoḥ
īśvara-prerito gacchet svargaṁ vāśvabhram eva ca.

„Der Herr beschäftigt das Lebewesen in frommen Aktivitäten, so daß es auf eine höhere Ebene gehoben werden kann. Der Herr beschäftigt es in gottlosen Aktivitäten, so daß es in die Hölle gehen kann. Das Lebewesen ist in seinem Leid und Glück völlig abhängig. Wie eine Wolke vom Wind getrieben wird, so gehen die Lebewesen durch den Willen des Höchsten in den Himmel oder in die Hölle.“

Der seit unvordenklichen Zeiten bestehende Wunsch der verkörperten Seele, Kṛṣṇa-Bewußtsein zu meiden, ist die Ursache für ihre Verwirrung. Folglich vergißt sie, obwohl sie dem Wesen nach ewig, glückselig und wissend ist, aufgrund der Unbedeutsamkeit ihres Dasein, ihre wesenseigene Position als der Diener des Herrn und gerät somit in die Falle der Unwissenheit. Und im Bann der Unwissenheit macht das Lebewesen den Herrn für sein bedingtes Dasein verantwortlich. Auch die Vedānta-sūtras bestätigen dies:

vaiṣyamya-nairghṛṇye na sāpekṣatvāt tathā hi darśayati.

„Der Herr haßt oder liebt niemanden, obwohl es so erscheint.“

VERS 16

ज्ञानेन तु तदज्ञानं येषां नाशितमात्मनः ।
तेषामादित्यवज्ज्ञानं प्रकाशयति तत्परम् ॥१६॥

jñānena tu tad ajñānaṁ
yeṣāṁ nāśitam ātmanaḥ
teṣām ādityavaj jñānaṁ
prakāśayati tat param

jñānena – durch Wissen; tu – aber; tat – diese; ajñānam – Unwissenheit; yeṣām – derjenigen; nāśitam – ist zerstört; ātmanaḥ – das Lebewesen; teṣām – ihrer; ādityavat – wie die aufgehende Sonne; jñānam – Wissen; prakāśayati – enthüllt; tat param – im Kṛṣṇa-Bewußtsein.

ÜBERSETZUNG

Wenn einer mit dem Wissen erleuchtet ist, das die Unwissenheit zerstört, offenbart sein Wissen alles, wie auch die Sonne am Tage alles erleuchtet.

ERKLÄRUNG

Diejenigen, die Kṛṣṇa vergessen haben, sind verwirrt, wohingegen diejenigen, die sich im Kṛṣṇa-Bewußtsein befinden, nicht im geringsten verwirrt sind. In der Bhagavad-gītā wird gesagt, „sarvaṁ jñāna-plavena“, „jñānāgniḥ sarva-karmāṇi“ und „na hi jñānena sadṛśam“. Wissen ist immer sehr geschätzt, doch was ist dieses Wissen? Wie es im neunzehnten Vers des Siebten Kapitels heißt, wird vollkommenes Wissen dann erreicht, wenn man sich Kṛṣṇa hingibt: bahūnāṁ janmanām ante jñānavān māṁ prapadyate. Wenn man sich also nach vielen Geburten im vollkommenen Wissen Kṛṣṇa hingibt bzw. Kṛṣṇa-Bewußtsein erreicht, wird alles offenbar, ähnlich wie durch die Sonne am Tage alles erleuchtet wird. Das Lebewesen ist in so vieler Hinsicht verwirrt. Wenn es zum Beispiel glaubt, selbst Gott zu sein, geht es in Wirklichkeit in die letzte Falle der Unwissenheit. Wenn ein Lebewesen Gott wäre, wie könnte es dann von Unwissenheit verwirrt werden? Wird Gott von Unwissenheit verwirrt? Würde dies der Fall sein, wäre Unwissenheit bzw. Satan größer als Gott. Wirkliches Wissen kann man von einem Menschen empfangen, der im Wissen fest verankert ist. Deshalb muß man einen echten geistigen Meister finden und unter seiner Führung lernen, was Kṛṣṇa-Bewußtsein ist. Wie die Sonne die Dunkelheit vertreibt, so kann der geistige Meister alle Unwissenheit vertreiben. Obwohl ein Mensch völlig erkannt haben mag, daß er nicht der Körper, sondern transzendental dazu ist, ist er vielleicht dennoch nicht imstande, zwischen der Seele und der Überseele zu unterscheiden. Man kann jedoch vollkommene Erkenntnis erlangen, wenn man bei einem vollkommenen, echten, Kṛṣṇa-bewußten geistigen Meister Zuflucht sucht. Man kann Gott und seine Beziehung zu Ihm nur dann erkennen, wenn man tatsächlich einen Repräsentanten Gottes trifft. Ein Repräsentant Gottes behauptet niemals, selbst Gott zu sein, obwohl ihm, da er im Wissen über Gott gründet, alle Ehre erwiesen wird, die gewöhnlich Gott zukommt. Man muß lernen, worin der Unterschied zwischen Gott und dem Lebewesen besteht. Śrī Kṛṣṇa sagt daher im Zweiten Kapitel (Bg. 2.12), daß jedes Lebewesen ein Individuum und daß auch der Herr ein Individuum ist. Sie waren Individuen in der Vergangenheit, sie sind Individuen in der Gegenwart, und sie werden auch in der Zukunft – selbst nach der Befreiung – weiterhin Individuen sein. In der Nacht erscheint uns in der Dunkelheit alles eins zu sein, doch am Tage, wenn die Sonne scheint, sehen wir alles in seiner wirklichen Identität. Wenn man seine Identität kennt und weiß, daß man auch im spirituellen Leben ein Individuum ist, besitzt man wirkliches Wissen.

VERS 17

तद्बुद्धयस्तदात्मानस्तन्निष्ठास्तत्परायणाः ।
गच्छन्त्यपुनरावृत्तिं ज्ञाननिर्धूतकल्मषाः ॥१७॥

tad-buddhayas tad-ātmānas
tan-niṣṭhās tat-parāyaṇāḥ
gacchanty apunar-āvṛttiṁ
jñāna-nirdhūta-kalmaṣāḥ

tad-buddhayaḥ – einer, dessen Intelligenz stets im Höchsten verankert ist; tad-ātmānaḥ – einer, dessen Geist stets im Höchsten verankert ist; tat-niṣṭhāḥ – dessen Geist nur für den Höchsten bestimmt ist; tat-parāyaṇāḥ – der völlig bei Ihm Zuflucht gesucht hat; gacchanti – geht; apunaḥ-āvṛttim – Befreiung; jñāna – Wissen; nirdhūta – reinigt; kalmaṣāḥ – Befürchtungen.

ÜBERSETZUNG

Wenn Intelligenz, Geist, Glaube und Zuflucht im Höchsten verankert sind, wird man durch vollständiges Wissen von allen Befürchtungen befreit und kann somit auf dem Pfad der Befreiung unbeirrt fortschreiten.

ERKLÄRUNG

Die Höchste Transzendentale Wahrheit ist Śrī Kṛṣṇa. Die Erklärung, daß Śrī Kṛṣṇa der Höchste Persönliche Gott ist, stellt die Essenz der gesamten Bhagavad-gītā dar. Dies wird in allen vedischen Schriften bestätigt. Paratattva bedeutet die Höchste Wirklichkeit, die denen, die den Höchsten kennen, als Brahman, Paramātmā und Bhagavān bekannt ist. Bhagavān, der Höchste Persönliche Gott, ist im Absoluten die letzte Stufe der Erkenntnis. Es gibt nichts, was darüber hinaus geht. Der Herr sagt, „mattaḥ parataraṁ nānyat kiñcit asti dhanañjaya“. Das unpersönliche Brahman geht ebenfalls von Kṛṣṇa aus: „brahmaṇo pratiṣṭhāham“. Deshalb ist Kṛṣṇa in jeder Hinsicht die höchste Wirklichkeit. Einer, dessen Geist, Intelligenz, Glaube und Zuflucht immer in Kṛṣṇa verankert sind, oder mit anderen Worten, wer völlig Kṛṣṇa-bewußt ist, wird zweifellos von allen Befürchtungen befreit und ist im vollkommenen Wissen über die Transzendenz verankert. Ein Kṛṣṇa-bewußter Mensch kann voll und ganz verstehen, daß es in Kṛṣṇa Dualität gibt (nämlich gleichzeitig Identität und Individualität), und wenn man solches transzendentales Wissen besitzt, kann man stetigen Fortschritt auf dem Pfad der Befreiung machen.

VERS 18

विद्याविनयसम्पन्ने ब्राह्मणे गवि हस्तिनि ।
शुनि चैव श्वपाके च पण्डिताः समदर्शिनः ॥१८॥

vidyā-vinaya-sampanne
brāhmaṇe gavi hastini
śuni caiva śvapāke ca
paṇḍitāḥ sama-darśinaḥ

vidyā – Erziehung; vinaya – Freundlichkeit; sampanne – vollständig ausgerüstet; brāhmaṇe – im brāhmaṇa; gavi – in der Kuh; hastini – im Elefanten; śuni – im Hund; ca – und; eva – gewiß; śvapāke – im Hundeesser (der Unberührbare); ca – jeweils; paṇḍitāḥ – diejenigen, die weise sind; sama-darśinaḥ – sehen mit gleicher Sicht.

ÜBERSETZUNG

Der demütige Weise sieht, da er in wirklichem Wissen gründet, keinen Unterschied zwischen einem gelehrten und freundlichen brāhmaṇa, einer Kuh, einem Elefanten, einem Hund und einem Hundeesser [Unberührbaren].

ERKLÄRUNG

Ein Kṛṣṇa-bewußter Mensch macht zwischen den verschiedenen Arten des Lebens oder den Kasten keinen Unterschied. Der brāhmaṇa und der Unberührbare mögen vom sozialen Standpunkt her gesehen verschieden sein, und ein Hund, eine Kuh oder ein Elefant scheinen verschiedenen Lebensformen anzugehören, doch diese körperlichen Unterschiede sind in den Augen eines gelehrten Transzendentalisten bedeutungslos. Dies beruht auf der Beziehung des Lebewesens zum Höchsten, denn der Herr ist durch Seine vollständige Erweiterung als Paramātmā im Herzen jedes Lebewesens gegenwärtig. Solch ein Verständnis vom Höchsten ist wirkliches Wissen. Soweit es die Körper in den verschiedenen Kasten oder Lebensarten betrifft, ist der Herr zu jedem in gleichem Maße gütig, da Er jedes Lebewesen als Freund behandelt. Aber dennoch bleibt Er als Paramātmā – ungeachtet der Lebensumstände des Lebewesens – stets in einer transzendentalen Position. Der Herr ist als Paramātmā sowohl im Unberührbaren als auch im brāhmaṇa gegenwärtig, obwohl der Körper eines brāhmaṇa und der eines Unberührbaren nicht gleich sind. Die Körper sind materielle Schöpfungen der verschiedenen Erscheinungsweisen der materiellen Natur, doch die Seele und die Überseele innerhalb des Körpers sind von gleicher spiritueller Qualität. Daß die Seele und die Überseele der Qualität nach gleich sind, bedeutet jedoch nicht, daß sie auch in Quantität gleich sind, denn die individuelle Seele ist nur in einem ganz bestimmten Körper anwesend, wohingegen der Paramātmā in jedem einzelnen Körper gegenwärtig ist. Ein Kṛṣṇa-bewußter Mensch ist sich darüber völlig bewußt, und deshalb ist er wirklich gelehrt und sieht mit gleicher Sicht. Die gemeinsamen Merkmale der Seele und der Überseele bestehen darin, daß beide bewußt, ewig und glückselig sind. Der Unterschied jedoch liegt darin, daß sich die individuelle Seele nur innerhalb der Grenzen ihres eigenen Körpers bewußt ist, wohingegen Sich die Überseele über aller Körper bewußt ist. Die Überseele ist ohne Ausnahme in allen Körpern gegenwärtig.

VERS 19

इहैव तैर्जितः सर्गो येषां साम्ये स्थितं मनः ।
निर्दोषं हि समं ब्रह्म तस्माद्ब्रह्मणि ते स्थिताः ॥१९॥

ihaiva tair jitaḥ sargo
yeṣāṁ sāmye sthitaṁ manaḥ
nirdoṣaṁ hi samaṁ brahma
tasmād brahmaṇi te sthitāḥ

iha – in diesem Leben; eva – gewiß; taiḥ – durch sie; jitaḥ – überwunden; sargaḥ – Geburt und Tod; yeṣām – von denen; sāmye – in Ausgeglichenheit; sthitam – sich so befinden; manaḥ – Geist; nirdoṣam – fehlerfrei; hi – gewiß; samam – in Ausgeglichenheit; brahma – das Höchste; tasmāt – daher; brahmaṇi – im Höchsten; te – sie; sthitāḥ – befinden sich.

ÜBERSETZUNG

Menschen, deren Geist in Gleichmut und Ausgeglichenheit ruht, haben die Fessel von Geburt und Tod abgestreift. Sie sind unbefleckt wie das Brahman, und daher sind sie bereits im Brahman verankert.

ERKLÄRUNG

Wie oben erwähnt wurde, ist die Ausgeglichenheit des Geistes ein Zeichen für Selbstverwirklichung. Diejenigen, die solch eine Stufe tatsächlich erreicht haben, haben die materiellen Bedingungen – insbesondere Geburt und Tod – überwunden. Solange man sich mit seinem Körper identifiziert, gilt man als bedingte Seele, doch sobald man durch Selbstverwirklichung auf die Stufe des Gleichmuts gehoben wird, ist man vom bedingten Lauf befreit. Mit anderen Worten, man ist nicht länger gezwungen, in der materiellen Welt geboren zu werden, sondern kann nach dem Tod in die spirituelle Welt eingehen. Der Herr ist makellos, weil Er ohne Zuneigung oder Haß ist. Wenn ein Lebewesen ohne Zuneigung oder Haß ist, wird es ebenso makellos und wird befähigt, in die spirituelle Welt einzugehen. Solche Menschen gelten als bereits befreit, und ihre Merkmale werden im nachfolgenden Vers beschrieben.

VERS 20

न प्रहृष्येत्प्रियं प्राप्य नोद्विजेत्प्राप्य चाप्रियम् ।
स्थिरबुद्धिरसंमूढो ब्रह्मविद्ब्रह्मणि स्थितः ॥२०॥

na prahṛṣyet priyaṁ prāpya
nodvijet prāpya cāpriyam
sthira-buddhir asammūḍho
brahma-vid brahmaṇi sthitaḥ

na – niemals; prahṛṣyet – erfreuen; priyam – erfreulich; prāpya – erreichend; na – nicht; udvijet – erregt; prāpya – erlangend; ca – auch; apriyam – unerfreulich; sthira-buddhiḥ – die Intelligenz des Selbst; asammūḍhaḥ – nicht verwirrt; brahmavit – einer, der das Höchste vollständig kennt; brahmaṇi – in der Transzendenz; sthitaḥ – verankert.

ÜBERSETZUNG

Wer weder frohlockt, wenn er etwas Erfreuliches erreicht, noch klagt, wenn ihm etwas Unerfreuliches widerfährt, wer über die Intelligenz des Selbst verfügt, nicht verwirrt ist und die Wissenschaft von Gott kennt, ist bereits in der Transzendenz verankert.

ERKLÄRUNG

Hier werden die Merkmale eines selbstverwirklichten Menschen aufgeführt. Das erste Merkmal ist, daß er nicht fälschlich sein wahres Selbst mit dem Körper identifiziert und in Illusion ist. Er weiß, daß er nicht der Körper ist, sondern ein fragmentarisches Teil des Höchsten Persönlichen Gottes. Er ist daher nicht voller Freude, wenn er erfolgreich ist, noch klagt er, wenn er etwas verliert, was in Beziehung zu seinem Körper steht. Diese Beständigkeit des Geistes wird sthira-buddhi (die Intelligenz des Selbst) genannt. Er ist daher niemals verwirrt, denn weder hält er fälschlich den grobstofflichen Körper für die Seele noch glaubt er, der Körper sei ewig, und mißachtet die Existenz der Seele. Dieses Wissen hebt ihn auf die Stufe, auf der er die vollständige Wissenschaft von der Absoluten Wahrheit – Brahman, Paramātmā und Bhagavān – versteht. Somit kennt er seine wesenseigene Position sehr genau und versucht nicht fälschlich, mit dem Höchsten eins zu werden. Dies wird Brahman-Verwirklichung bzw. Selbstverwirklichung genannt. Solch ein stetiges Bewußtsein nennt man Kṛṣṇa-Bewußtsein.

VERS 21

बाह्यस्पर्शेष्वसक्तात्मा विन्दत्यात्मनि यत्सुखम् ।
स ब्रह्मयोगयुक्तात्मा सुखमक्षयमश्नुते ॥२१॥

bāhya-sparśeṣv asaktātmā
vindaty ātmani yat sukham
sa brahma-yoga-yuktātmā
sukham akṣayam aśnute

bāhya-sparśeṣu – in äußerer Sinnesfreude; asakta-ātmā – einer, der nicht auf diese Weise angehaftet ist; vindati – genießt; ātmani – im Selbst; yat – das was; sukham – Glück; saḥ – das; brahma-yoga – auf das Brahman konzentriert; yukta-ātmā – mit dem Selbst verbunden; sukham – Glück; akṣayam – unbegrenzt; aśnute – genießt.

ÜBERSETZUNG

Solch ein befreiter Mensch fühlt sich weder zu materieller Sinnesfreude noch zu äußeren Objekten hingezogen, sondern befindet sich stets in Trance und genießt die Freude im Innern. Auf diese Weise erfährt der Selbstverwirklichte unbegrenztes Glück, denn er konzentriert sich auf den Höchsten.

ERKLÄRUNG

Śrī Yāmunācārya, ein großer Gottgeweihter im Kṛṣṇa-Bewußtsein, sagte:

yadāvadhi mama cetaḥ kṛṣṇa-padāravinde
nava-nava-rasa-dhāmanudyata rantum āsīt
tadāvadhi bata nārī-saṅgame smaryamāne
bhavati mukha-vikāraḥ suṣṭu niṣṭhīvanaṁ ca

„Seitdem ich im transzendentalen liebevollen Dienst Kṛṣṇas beschäftigt bin, erfahre ich immer neue Freude, und immer wenn Ich an sexuelle Freuden denke, speie ich auf den Gedanken, und meine Lippen verziehen sich in Abscheu.“

Ein Mensch im brahma-yoga bzw. Kṛṣṇa-Bewußtsein ist so sehr in den liebevollen Dienst des Herrn vertieft, daß er den Geschmack an materieller Sinnesfreude verliert. Die höchste materielle Freude ist sexuelle Freude. Die ganze Welt bewegt sich unter ihrem Zauber, und ein Materialist kann ohne diese Zielsetzung nicht arbeiten. Aber ein Mensch, der im Kṛṣṇa-Bewußtsein beschäftigt ist, kann ohne sexuelle Freude (die er vermeidet) mit größerer Energie arbeiten. Das ist die Prüfung für spirituelle Verwirklichung. Spirituelle Verwirklichung und sexuelle Freude sind unvereinbar. Ein Kṛṣṇa-bewußter Mensch wird von keiner Sinnesfreude angezogen, denn er ist eine befreite Seele.

VERS 22

ये हि संस्पर्शजा भोगा दुःखयोनय एव ते ।
आद्यन्तवन्तः कौन्तेय न तेषु रमते बुधः ॥२२॥

ye hi saṁsparśajā bhogā
duḥkha-yonaya eva te
ādy-antavantaḥ kaunteya
na teṣu ramate budhaḥ

ye – diejenigen; hi – gewiß; saṁsparśajāḥ – durch Berührung mit den materiellen Sinnen; bhogāḥ – Genuß; duḥkha – Leid; yonayaḥ – Quellen des; eva – gewiß; te – sie sind; ādi – am Anfang; antavantaḥ – unterworfen; kaunteya – O Sohn Kuntīs; na – niemals; teṣu – an diesen; ramate – sich erfreuen; budhaḥ – der Intelligente.

ÜBERSETZUNG

Wer intelligent ist, schöpft nicht aus den Quellen des Leids, die aus der Berührung mit den materiellen Sinnen entstehen. O Sohn Kuntīs, solche Freuden haben einen Anfang und ein Ende, und daher erfreut sich der Weise nicht an ihnen.

ERKLÄRUNG

Materielle Sinnesfreuden entstehen aus der Verbindung mit den materiellen Sinnen, die zeitweilig sind, weil der Körper selbst zeitweilig ist. Eine befreite Seele ist an nichts Zeitweiligem interessiert. Wie könnte sie dem Genuß falscher Freude zustimmen, wenn sie die Glückseligkeit transzendentaler Freuden kennt? Im Padma Purāṇa wird gesagt:

ramante yogino’nante satyānanda-cid-ātmani
iti rāma-padenāsau paraṁ brahmābhidhīyate

„Die Mystiker schöpfen unbegrenzte transzendentale Freuden aus der Absoluten Wahrheit, und daher ist die Höchste Absolute Wahrheit, der Persönliche Gott, auch als Rāma bekannt.“

Auch im Śrīmad-Bhāgavatam wird gesagt:

nāyaṁ deho deha-bhājāṁ nṛ-loke
kaṣṭān kāmānarhate viḍ-bhajāṁ ye
tapo divyaṁ putrakā yena sattvaṁ
śuddhyed yasmād brahma-saukhyaṁ tv anantam.

„Meine lieben Söhne, es gibt keinen Grund, in dieser menschlichen Form des Lebens sehr schwer für Sinnesfreuden zu arbeiten; solche Freuden sind auch den Kotessern (Schweinen) zugänglich. Ihr solltet euch statt dessen in diesem Leben Bußen auferlegen, durch die euer Dasein gereinigt wird, und als Ergebnis werdet ihr fähig sein, euch grenzenloser transzendentaler Glückseligkeit zu erfreuen.“ (Bhāg. 5.5.1)

Deshalb verspüren die wahren yogīs oder gelehrten Transzendentalisten keine Anziehung zu den Sinnesfreuden, die die Ursachen für ein fortgesetztes materielles Dasein sind. Je mehr man in materiellen Freuden schwelgt, desto mehr muß man materielle Leiden erdulden.

VERS 23

शक्नोतीहैव यः सोढुं प्राक्शरीरविमोक्षणात् ।
कामक्रोधोद्भवं वेगं स युक्तः स सुखी नरः ॥२३॥

śaknotīhaiva yaḥ soḍhuṁ
prāk śarīra-vimokṣaṇāt
kāma-krodhodbhavaṁ vegaṁ
sa yuktaḥ sa sukhī naraḥ

śaknoti – imstande sein zu tun; iha eva – im gegenwärtigen Körper; yaḥ – jemand, der; soḍhum – zu dulden; prak – bevor; śarīra – Körper; vimokṣaṇāt – wenn man aufgibt; kāma – Verlangen; krodha – Zorn; udbhavam – erzeugt von; vegam – drängen; saḥ – er; yuktaḥ – in Trance; saḥ – er; sukhī – glücklich; naraḥ – Mensch.

ÜBERSETZUNG

Wer vor Verlassen des gegenwärtigen Körpers dem Drang der materiellen Sinne widerstehen und die Macht von Verlangen und Zorn bezwingen kann, ist ein yogī und lebt glücklich in dieser Welt.

ERKLÄRUNG

Wenn man stetigen Fortschritt auf dem Pfad der Selbstverwirklichung machen will, muß man versuchen, den Drang der materiellen Sinne zu beherrschen. Es gibt den Drang des Redens, den Drang des Zornes, den Drang des Geistes, den Drang des Magens, den Drang der Genitalien und den Drang der Zunge. Wer fähig ist, den Drang all dieser verschiedenen Sinne und den Geist zu kontrollieren, wird gosvāmī oder svāmī genannt. Solche gosvāmīs leben ein streng kontrolliertes Leben und ziehen sich vom Drang der Sinne vollständig zurück. Wenn materielle Verlangen unbefriedigt bleiben, erzeugen sie Zorn, und daher werden der Geist, die Augen und die Brust erregt. Deshalb muß man sich darin üben, sie zu kontrollieren, bevor man den materiellen Körper aufgibt. Wer dazu fähig ist, wird als selbstverwirklicht angesehen und ist in seiner Selbstverwirklichung glücklich. Es ist die Pflicht des Transzendentalisten, mit aller Kraft zu versuchen, Verlangen und Zorn zu beherrschen.

VERS 24

योऽन्तःसुखोऽन्तरारामस्तथान्तर्ज्योतिरेव यः ।
स योगी ब्रह्मनिर्वाणं ब्रह्मभूतोऽधिगच्छति ॥२४॥

yo’ntaḥ-sukho’ntarārāmas
tathāntar-jyotir eva yaḥ
sa yogī brahma-nirvāṇaṁ
brahma-bhūto’dhigacchati

yaḥ – jemand, der; antaḥ-sukhaḥ – aus dem Innern glücklich; antaḥ-ārāmaḥ – im Innern aktiv; tathā – wie auch; antaḥ-jyotiḥ – nach innen zielen; eva – gewiß; yaḥ – jeder; saḥ – er; yogī – Mystiker; brahma-nirvāṇam – befreit im Höchsten; brahma-bhūtaḥ – selbstverwirklicht; adhigacchati – erlangt.

ÜBERSETZUNG

Wessen Glück im Innern liegt, wer im Innern aktiv ist, sich im Innern erfreut und von innen her erleuchtet wird, ist der wahrhaft vollkommene Mystiker. Er ist im Höchsten befreit, und letztlich erreicht er den Höchsten.

ERKLÄRUNG

Wie kann man von äußeren Beschäftigungen ablassen, die dazu bestimmt sind, nur oberflächliches Glück zu erreichen, wenn man nicht fähig ist, das Glück im Innern zu kosten? Ein befreiter Mensch genießt Glück durch tatsächliche Erfahrung. Er kann sich deshalb an jedem beliebigen Ort ruhig niederlassen und die Aktivitäten des Lebens von innen her genießen. Solch ein befreiter Mensch begehrt nicht länger nach äußerem materiellen Glück. Diese Stufe wird brahma-bhūta genannt, und wer sie erreicht, geht mit Sicherheit zurück zu Gott, zurück nach Hause.

VERS 25

लभन्ते ब्रह्मनिर्वाणमृषयः क्षीणकल्मषाः ।
छिन्नद्वैधा यतात्मानः सर्वभूतहिते रताः ॥२५॥

labhante brahma-nirvāṇam
ṛṣayaḥ kṣīṇa-kalmaṣāḥ
chinna-dvaidhā yatātmānaḥ
sarva-bhüta-hite ratāḥ

labhante – erreichen; brahma-nirvāṇam – Befreiung im Höchsten; ṛṣayaḥ – diejenigen, die im Innern aktiv sind; kṣīṇa-kalmaṣāḥ – die frei von allen Sünden sind; chinna – abgerissen; dvaidhāḥ – Dualität; yata-ātmānaḥ – mit Selbstverwirklichung beschäftigt; sarva-bhūta – in allen Lebewesen; hite – in Wohltätigkeitsarbeit; ratāḥ – beschäftigt.

ÜBERSETZUNG

Wer sich jenseits von Dualität und Zweifel befindet, wessen Geist im Innern vertieft ist, wer sich ständig um das Wohlergehen aller fühlenden Wesen bemüht und frei von allen Sünden ist, erreicht Befreiung im Höchsten.

ERKLÄRUNG

Nur von einem völlig Kṛṣṇa-bewußten Menschen kann man sagen, daß er zum Wohl aller Lebewesen handelt. Wenn ein Mensch wirklich weiß, daß Kṛṣṇa der Ursprung allen Seins ist, und auch in diesem Bewußtsein handelt, handelt er zum Wohl aller. Die Menschheit leidet, weil sie vergessen hat, daß Kṛṣṇa der höchste Genießende, der höchste Besitzer und der beste Freund ist. Aktivitäten, die dazu dienen, dieses Bewußtsein in der menschlichen Gesellschaft wiederzuerwecken, sind deshalb die höchste Wohltätigkeitsarbeit. Solange man jedoch nicht im Höchsten befreit ist, kann man keine erstklassige Wohltätigkeitsarbeit leisten. Ein Kṛṣṇa-bewußter Mensch zweifelt nicht im geringsten an der überragenden Herrschaft Kṛṣṇas. Er hegt keinen Zweifel, weil er völlig frei von allen Sünden ist. Das ist die Stufe göttlicher Liebe.

Ein Mensch, der nur das körperliche Wohlergehen der menschlichen Gesellschaft fördert, kann im Grunde genommen niemandem helfen. Zeitweilige Erleichterung für den äußeren Körper und den Geist führt zu keiner befriedigenden Lösung. Die wirkliche Ursache der Schwierigkeiten, die aus dem harten Kampf ums Dasein entstehen, liegt darin, daß man seine Beziehung zum Höchsten Herrn vergessen hat. Wenn sich ein Mensch über seine Beziehung zu Kṛṣṇa völlig bewußt ist, ist er eine befreite Seele, obwohl er sich noch in einem materiellen Körper befinden mag.

VERS 26

कामक्रोधविमुक्तानां यतीनां यतचेतसाम् ।
अभितो ब्रह्मनिर्वाणं वर्त्तते विदितात्मनाम् ॥२६॥

kāma-krodha-vimuktānāṁ
yatīnāṁ yata-cetasām
abhito brahma-nirvāṇaṁ
vartate viditātmanām

kāma – Verlangen; krodha – Zorn; vimuktānām – von denen, die befreit sind; yatīnām – von Heiligen; yata-cetasām – von Menschen, die völlige Kontrolle über den Geist besitzen; abhitaḥ – werden in naher Zukunft sicherlich; brahma-nirvāṇam – Befreiung im Höchsten; vartate – gibt es; vidita-ātmanām – von denen, die selbstverwirklicht sind.

ÜBERSETZUNG

Wer frei von Zorn und allen materiellen Verlangen und wer selbstverwirklicht, selbstdiszipliniert und ständig um Vollkommenheit bemüht ist, wird mit Sicherheit in sehr naher Zukunft im Höchsten befreit.

ERKLÄRUNG

Von allen Heiligen, die ständig nach Befreiung streben, ist derjenige der beste, der sich im Kṛṣṇa-Bewußtsein befindet. Das Bhāgavatam bestätigt diese Tatsache wie folgt:

yat-pāda-paṅkaja-palāśa-vilāsa-bhaktyā
karmāśayaṁ grathitam udgrathayanti santaḥ
tadvan na rikta-matayo yatayo ’pi ruddha-
srotogaṇās tam araṇaṁ bhaja vāsudevam.

„Versuche nur Vāsudeva, den Höchsten Persönlichen Gott, durch hingebungsvolles Dienen zu verehren. Selbst große Weise sind nicht fähig, den Drang der Sinne so wirksam zu kontrollieren, wie die Gottgeweihten, die in transzendentaler Glückseligkeit den Lotusfüßen des Herrn dienen und auf diese Weise das tiefverwurzelte Verlangen nach fruchtbringenden Aktivitäten entwurzeln.“ (Bhāg. 4.22.39)

In der bedingten Seele ist das Verlangen, die fruchtbringenden Ergebnisse ihrer Arbeit zu genießen, so tief verwurzelt, daß es selbst für die großen Weisen – trotz großer Bemühungen – sehr schwierig ist, diese Begierden zu beherrschen. Ein Gottgeweihter erreicht sehr schnell Befreiung im Höchsten, weil er ständig im hingebungsvollen Dienst im Kṛṣṇa-Bewußtsein beschäftigt ist und vollkommene Selbstverwirklichung erlangt hat. Und weil er auf dieser Stufe der Selbstverwirklichung in vollständigem Wissen gründet, bleibt er fortwährend in Trance. Ein Beispiel hierfür lautet:

darśana-dhyāna-saṁsparśair matsya-kūrma-vihaṅgamāḥ
svānya patyāni puṣṇanti tathāham api padmaja.

„Allein durch Anblicken, Meditation und Berührung sorgen die Fische, Schildkröten und Vögel für ihre Nachkommen. In ähnlicher Weise verhalte auch Ich mich, o Padmaja!“

Der Fisch zieht seine Nachkommen auf, indem er einfach über sie blickt, und die Schildkröte zieht ihre Nachkommenschaft auf, indem sie einfach über sie meditiert – sie legt ihre Eier auf dem Land ab und meditiert über sie, während sie im Wasser bleibt. Ähnlich verhält es sich auch mit einem Gottgeweihten im Kṛṣṇa-Bewußtsein; denn, obwohl er sehr weit vom Reich des Herrn entfernt ist, kann er sich doch sehr leicht zu diesem Reich erheben, wenn er einfach ständig an den Herrn denkt, indem er sich im Kṛṣṇa-Bewußtsein beschäftigt. Er fühlt nicht die Qualen materieller Leiden; diese Stufe des Lebens wird brahma-nirvāṇa (das Fernsein von materiellen Leiden) genannt, da man ständig in Gedanken an den Höchsten versunken ist.

VERS 27–28

स्पर्शान्कृत्वा बहिर्बाह्यांश्चक्षुश्चैवान्तरे भ्रुवोः ।
प्राणापानौ समौ कृत्वा नासाभ्यन्तरचारिणौ ॥२७॥

यतेन्द्रियमनोबुद्धिर्मुनिर्मोक्षपरायणः ।
विगतेच्छाभयक्रोधो यः सदा मुक्त एव सः ॥२८॥

sparśān kṛtvā bahir bāhyāṁś
cakṣuś caivāntare bhruvoḥ
prāṇāpānau samau kṛtvā
nāsābhyantara-cāriṇau

yatendriya-mano-buddhir
munir mokṣa-parāyaṇaḥ
vigatecchā-bhaya-krodho
yaḥ sadā mukta eva saḥ

sparśān – äußere Sinnesobjekte, wie Klang, usw.; kṛtvā – wenn man sich so verhält; bahiḥ – äußere; bāhyān – nicht notwendig; cakṣuḥ – Augen; ca – auch; eva – gewiß; antare – innen; bhruvoḥ – der Augenbrauen; prāṇa-apānau – auf- und abwärtsströmende Luft; samau – Anhalten; kṛtvā – wenn man sich so verhält; nāsā-abhyantara – in den Nasenlöchern; cāriṇau – blasen; yata – kontrolliert; indriya – Sinne; manaḥ – Geist; buddhiḥ – Intelligenz; muniḥ – der Transzendentalist; mokṣa – Befreiung; parāyaṇaḥ – so bestimmt sein; vigata – aufgegeben; icchā – Wünsche; bhaya – Angst; krodhaḥ – Ärger; yaḥ – jemand, der; sadā – immer; muktaḥ – befreit; eva – gewiß; saḥ – er ist.

ÜBERSETZUNG

Indem er sich von allen äußeren Sinnesobjekten zurückzieht, den Blick zwischen die Augenbrauen konzentriert, den ein- und ausströmenden Atem in den Nasenlöchern anhält und so den Geist, die Sinne und die Intelligenz kontrolliert, wird der Transzendentalist von Verlangen, Angst und Zorn frei. Wer sich fortwährend in diesem Zustand befindet, ist zweifellos befreit.

ERKLÄRUNG

Wenn man im Kṛṣṇa-Bewußtsein beschäftigt ist, kann man augenblicklich seine spirituelle Identität erkennen und mit Hilfe des hingebungsvollen Dienens den Höchsten Herrn verstehen. Wenn man im hingebungsvollen Dienst fest verankert ist, gelangt man auf die transzendentale Ebene, auf der man fähig ist, im Bereich seiner Aktivitäten die Anwesenheit des Herrn zu spüren. Diese besondere Ebene wird Befreiung im Höchsten genannt.

Nachdem der Herr die oben genannten Prinzipien der Befreiung im Höchsten erklärt hat, unterweist Er Arjuna, wie man diese Position durch Mystik bzw. yoga (aṣṭāṅga-yoga) erreichen kann. Dieser yoga ist achtfach gegliedert in: yama, niyama, āsana, prāṇāyāma, pratyāhāra, dhāraṇā, dhyāna und samādhi. Hier, am Ende des Fünften Kapitels, wird dieses Thema nur vorbereitend erklärt; im Sechsten Kapitel jedoch wird dieser yoga ausführlich und in allen Einzelheiten beschrieben. Man muß die Sinnesobjekte wie Klang, Berührung, Form, Geschmack und Geruch durch den pratyāhāra-(Atmungs-) Vorgang im yoga vertreiben. Daraufhin muß man den Blick zwischen die beiden Augenbrauen richten und sich mit halbgeschlossenen Lidern auf die Nasenspitze konzentrieren. Es nützt nichts, wenn man die Augen ganz schließt, da dann immer die Möglichkeit besteht einzuschlafen. Auch nützt es nichts, die Augen vollständig zu öffnen, da dann die Gefahr sehr groß ist, von den Sinnesobjekten angezogen zu werden. Die Atembewegung wird in den Nasenlöchern angehalten, indem man die auf- und abströmende Luft im Körper zum Stillstand bringt. Durch die Ausübung dieses yoga ist man fähig, Kontrolle über die Sinne zu gewinnen und sich von äußeren Sinnesobjekten zurückzuhalten. So bereitet man sich auf die Befreiung im Höchsten vor.

Dieser yoga-Vorgang hilft dem Transzendentalisten, von allen Ängsten und allem Zorn frei zu werden und auf diese Weise die Gegenwart der Überseele zu spüren. Mit anderen Worten, Kṛṣṇa-Bewußtsein ist der einfachste Vorgang, die Prinzipien des yoga auszuführen. Dies wird im nächsten Kapitel ausführlich erklärt. Ein Kṛṣṇa-bewußter Mensch läuft nicht Gefahr, seine Sinne an andere Beschäftigungen zu verlieren, weil er immer im hingebungsvollen Dienen beschäftigt ist. Durch diese Methode kann man seine Sinne besser kontrollieren als durch aṣṭāṅga-yoga.

VERS 29

भोक्तारं यज्ञतपसां सर्वलोकमहेश्वरम् ।
सुहृदं सर्वभूतानां ज्ञात्वा मां शान्तिमृच्छति ॥२९॥

bhoktāraṁ yajña-tapasāṁ
sarva-loka-maheśvaram
suhṛdaṁ sarva-bhūtānāṁ
jñātvā māṁ śāntim ṛcchati

bhoktāram – Nutznießer; yajña – Opfer; tapasām – der Bußen und Enthaltsamkeiten; sarva-loka – alle Planeten und die Halbgötter auf ihnen; maheśvaram – der Höchste Herr; suhṛdam – Wohltäter; sarva – alle; bhūtānām – der Lebewesen; jñātvā – wenn man dies weiß; mām – Mich (Śrī Kṛṣṇa); śāntim – Erleichterung von materiellen Qualen; ṛcchati – erreicht.

ÜBERSETZUNG

Die Weisen, die Mich als das endgültige Ziel aller Opfer und Bußen kennen, als den Höchsten Herrn aller Planeten und Halbgötter und den Wohltäter und wohlmeinenden Freund aller Lebewesen, erlangen Frieden von den Qualen des materiellen Daseins.

ERKLÄRUNG

Die bedingten Seelen, die sich in den Klauen der illusionierenden Energie befinden, sind darum bemüht, in der materiellen Welt Frieden zu finden. Aber sie kennen nicht die Friedensformel, die in diesem Teil der Bhagavad-gītā erklärt wird. Die wirksamste Friedensformel lautet einfach: Śrī Kṛṣṇa ist der Empfänger aller menschlicher Aktivitäten. Die Menschen sollten alles für den transzendentalen Dienst des Herrn opfern, da Er der Besitzer aller Planeten und aller Halbgötter ist. Niemand ist größer als Er. Er ist größer als die Größten der Halbgötter wie Śiva und Brahmā. In den Veden wird der Höchste Herr als tam īśvarāṇāṁ paramam maheśvaram beschrieben. Im Bann der Illusion versuchen die Lebewesen über alles zu herrschen, was sie erblicken; in Wirklichkeit aber werden sie von der materiellen Energie des Herrn beherrscht. Der Herr ist der Meister der materiellen Natur, und die bedingten Seelen sind ihren strengen Regeln unterworfen. Solange man diese einfachen Tatsachen nicht versteht, ist es weder individuell noch kollektiv möglich, Frieden in der Welt zu finden. Der Grundgedanke des Kṛṣṇa-Bewußtseins lautet: Śrī Kṛṣṇa ist der höchste Herrscher, und alle Lebewesen, einschließlich der großen Halbgötter, sind Seine Untergebenen. Vollkommener Friede läßt sich nur im völligen Kṛṣṇa-Bewußtsein finden.

Dieses Fünfte Kapitel ist eine praktische Erklärung des Kṛṣṇa-Bewußtseins, das allgemein als karma-yoga bekannt ist. Die gedanklicher Spekulation entsprungene Frage, wie karma-yoga zur Befreiung führen könne, ist hiermit beantwortet. Im Kṛṣṇa-Bewußtsein tätig zu sein bedeutet, in dem vollständigen Wissen zu handeln, daß der Herr der Herrscher ist. Solches Handeln unterscheidet sich nicht von transzendentalem Wissen. Direktes Kṛṣṇa-Bewußtsein ist bhakti-yoga, und jñāna-yoga ist ein Pfad, der zu bhakti-yoga führt. Kṛṣṇa-Bewußtsein bedeutet, im vollständigen Wissen über seine Beziehung zum Höchsten Absoluten zu handeln. Und die Vollkommenheit dieses Bewußtseins bedeutet, vollständiges Wissen über Kṛṣṇa bzw. den Höchsten Persönlichen Gott zu besitzen. Die reine Seele ist als fragmentarisches winziges Bestandteil Gottes Sein ewiger Diener. Weil sie das Verlangen hat, über māyā zu herrschen, kommt sie mit māyā (Illusion) in Berührung, und das ist die Ursache ihrer vielen Leiden. Solange die bedingte Seele mit Materie in Berührung ist, muß sie entsprechend den materiellen Notwendigkeiten tätig sein. Kṛṣṇa-Bewußtsein jedoch bringt sie in das spirituelle Leben zurück, selbst wenn sie sich noch im Einflußbereich der Materie befindet; denn bei dieser Methode wird durch praktisches Handeln in der materiellen Welt die spirituelle Existenz wiedererweckt. Je weiter jemand fortschreitet, desto mehr wird er aus der Gewalt der Materie befreit. Der Herr bevorzugt oder benachteiligt niemanden. Alles hängt davon ab, inwieweit man seine Pflichten erfüllt und sich bemüht, die Sinne zu beherrschen und den Einfluß von Verlangen und Zorn zu bezwingen. Und wenn man durch die Kontrolle der oben erwähnten Leidenschaften Kṛṣṇa-Bewußtsein erlangt, wird man auf der transzendentalen Ebene (brahma-nirvāṇa) verankert. Auch der achtfache mystische yoga ist im Kṛṣṇa-Bewußtsein enthalten, denn sein endgültiges Ziel wird automatisch erreicht. Durch die Ausübung von yama, niyama, āsana, pratyāhāra, dhyāna, dhāraṇā, prāṇāyāma und samādhi macht man allmählichen Fortschritt. Aber dieser achtfache yoga-Pfad ist nur die Einführung in das hingebungsvolle Dienen, das allein dem Menschen Frieden bringen kann. Es ist die höchste Vollkommenheit des Lebens.

So enden die Erklärungen Bhaktivedantas zum Fünften Kapitel der
Śrīmad-Bhagavad-gītā, genannt „Karma-yoga – Handeln im Kṛṣṇa-Bewußtsein“.

 

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