- Die Lehren Śrī Kṛṣṇa Caitanyas -    
Original Version - Erste Auflage 1975
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von Seiner Göttlichen Gnade A.C Bhaktivedanta Swami Prabhupāda

Gründer und ācārya der Internationalen Gesellschaft für Kṛṣṇa-Bewußtsein


Die Lehren
Śrī Kṛṣṇa Caitanyas

von
Seine Göttliche Gnade
A.C. Bhaktivedanta Swami Prabhupāda

Gründer-Ācārya der Internationalen Gesellschaft
für Kṛṣṇa-Bewußtsein e.V.

Inhalt

Geleitwort ....................................................................
Vorwort .......................................................................
Prolog...........................................................................
Einleitung.....................................................................
Die Botschaft Śrī Kṛṣṇa Caitanyas - Śrī Śiksāṣṭaka.......
Die Unterweisung Rūpa Gosvāmīs..................................
Sanātana Gosvāmī........................................................
Die Unterweisung Sanātana Gosvāmīs...........................
Der Weise ...................................................................
Wie man Gott näherkommt..........................................
Kṛṣṇas unzählige Formen sind eins ..............................
Die unzähligen Formen Gottes .....................................
Die Avatāras ...............................................................
Die unermeßlichen Füllen Kṛṣṇas..................................
Die Schönheit Kṛṣṇas..................................................
Der Dienst für den Herrn ..............................................
Der Gottgeweihte.........................................................
Hingebungsvolles Dienen in transzendentaler Anhaftung..
Die Ekstase des Herrn und Seiner Geweihten .................
Erklärung des ātmārāma-Verses aus dem Bhāgavatam ..
Śrī Caitanya beendet Seine Unterweisung Sanātanas ......
Śrī Kṛṣṇa Caitanya, der Ursprüngliche Persönliche Gott ...
Gespräche mit Prakāṣānanda Sarasvatī..........................
Das Ziel des Vedānta ....................................................
Die Māyāvādī-Philosophen werden überzeugt ................
Weitere Gespräche mit Prakāṣānanda Sarasvatī.............
Prakāṣānanda Sarasvatī gibt sich hin..............................
Das Śrīmad-Bhāgavatam ..............................................
Gespräche mit Sārvabhauma Bhaṭṭācārya .....................
Persönliche und unpersönliche Verwirklichung.................
Sārvabhauma Bhaṭṭācārya ist überzeugt ......................
Śrī Caitanya und Rāmānanda Rāya ...............................
Die Erhabenheit des hingebungsvollen Dienens ..............
Die transzendentale Beziehung Rādhā und Kṛṣṇas ........
Reine Liebe zu Kṛṣṇa...................................................
Die höchste Vollkommenheit ........................................
Schlußfolgerung............................................................
Erklärung wichtiger Sanskritwörter und Eigennamen ......
16 farbige Bildtafeln aus dem Buch

 








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Die Lehren
Śrī Kṛṣṇa Caitanyas

Eine Abhandlung
über wirkliches spirituelles Leben

THE BHAKTIVEDANTA BOOK TRUST BBT

Titel der Originalausgabe:
Teachings of Lord Caitanya

Für die Übersetzung aus dem Englischen verantwortlich:

Vedavyāsa dāsa brahmacārī (Christian Jansen)
Śacīnandana dāsa brahmacārī (Thorsten Pettersson)
Nikhilānanda dāsa brahmacārī (Nikolay Jankowsky)

1. Auflage 1.-10. Tausend

BBT-Logo

Copyright © THE BHAKTIVEDANTA BOOK TRUST
Alle Rechte vorbehalten

Herausgeber:
Internationale Gesellschaft für Kṛṣṇa-Bewußtsein e.V.
6241 Schloß Rettershof/i. Ts.
Tel.: 06174/21357

Gesamtherstellung: Clausen & Bosse, Leck

Für seine unersetzliche Hilfe bei der Herausgabe
dieses Werkes gilt unser besonderer Dank
Prof. Dr. W. H. Wolf-Rottkay

Associate Professor Emeritus of German and
Linguistics at the University of Southern California.
Die Übersetzer


Gewidmet

dem heiligen Dienst
Śrīla Sac-cid-ānanda Bhaktivinoda Ṭhākuras
der die Lehren Śrī Kṛṣṇa Caitanyas im Jahre 1896
dem Jahr meiner Geburt
in die westliche Welt brachte
(McGill University, Canada)

A. C. Bhaktivedanta Swami    



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24. KAPITEL

Caitanya

Gespräche mit Sārvabhauma Bhaṭṭācārya

Als Śrī Caitanya in Jagannātha Purī mit Sārvabhauma Bhaṭṭācārya zusammentraf, wollte Bhaṭṭācārya, als der größte Logiker seiner Zeit, den Herrn in den Lehren des Vedānta-sūtra unterweisen. Er befand sich etwa im Alter von Śrī Caitanyas Vater, und da er eine Art von väterlicher Zuneigung für den jungen sannyāsī empfand, nahm er sich des Herrn an und bat Ihn, Ihm das Vedānta-sūtra erklären zu dürfen; denn ohne das Verständnis des Vedānta-sūtra, so sagte er, werde es für Śrī Caitanya sehr schwer sein, sein ganzes Leben hindurch sannyāsī zu bleiben. Der Herr war mit dem Vorschlag einverstanden, und so setzten sie sich in den Tempel von Jagannātha, wo Bhaṭṭācārya sieben Tage lang ununterbrochen zu dem Herrn sprach. Ohne ein Wort zu sagen, hörte Śrī Caitanya seinen Erklärungen zu, bis Sein Schweigen Sārvabhauma Bhaṭṭācārya schließlich am achten Tag gar zu seltsam schien und er sagte: »Du hörst jetzt schon seit einer Woche aus dem Vedānta-sūtra von mir, und doch hast Du bisher noch keine einzige Frage gestellt und Dich weder positiv noch negativ zu meiner Interpretation geäußert; daher frage ich mich langsam, ob Du mich überhaupt verstehst. «

Der Herr erwiderte: »Ich bin ein Dummkopf und habe den Vedānta nie studiert, doch weil du Mich gebeten hast zuzuhören, versuche Ich deine Worte zu verstehen. Du sagtest, es sei die Pflicht eines jeden sannyāsī, das Vedānta-sūtra zu kennen, und deshalb sitze Ich hier und höre dir zu; mit deinen Interpretationen weiß Ich jedoch nichts anzufangen. «

Der Herr wollte damit sagen, daß es im Māyāvādī-sampradāya viele sogenannte sannyāsīs gibt, die im Grunde nicht sehr intelligent sind und oft nicht einmal die Schriften gelesen haben, die aber der Form halber das Vedānta-sūtra von ihrem geistigen Meister hören, obgleich sie kein Wort davon verstehen können. Śrī Caitanya, der natürlich die volle Bedeutung des Vedānta kannte, tat nur deshalb so, als könnte Er die Erklärungen Bhaṭṭācāryas nicht begreifen, weil Er mit den Interpretationen der Māyāvādī-Philosophen nicht einverstanden war. Als Bhaṭṭācārya vernahm, daß der Herr seine Erklärungen angeblich nicht verstehen konnte, sagte er: »Wenn Du mir nicht folgen kannst, warum fragst Du dann nicht einfach, sondern bleibst stillschweigend sitzen? Mir scheint, Du hast etwas zu meinen Erklärungen zu sagen!«

Darauf antwortete ihm der Herr: »Zum Vedānta-sūtra bzw. zur Bedeutung des Vedānta selbst habe Ich keine Fragen, doch deine Auslegung bleibt Mir unverständlich. Die Bedeutung der ursprünglichen Aphorismen ist an sich nicht schwer zu verstehen, doch die Art und Weise, wie du sie Mir erklärst, scheint Mir ihre eigentliche Bedeutung zu verzerren. Du gibst nicht die direkte Bedeutung des Vedānta wieder, sondern erfindest eine eigene unvollkommene Interpretation, wodurch du den wirklichen Sinn verschleierst. Ich glaube, du mißbrauchst den Vedānta nur dazu, deine eigene Lehre zu propagieren.

Wie in der Mukti-Upaniṣad gesagt wird, gibt es insgesamt 108 Upaniṣaden, von denen die folgenden elf am bedeutendsten sind:

Īṣopaniṣad, Kenopaniṣad, Kaṭhopaniṣad, Praṣnopaniṣad, Muṇḍakopaniṣad, Māṇḍūkyopaniṣad, Taittirīyopaniṣad, Aitareyopaniṣad, Chāndakyopaniṣad, Bṛhad-āranyakopaniṣad, Brahmopaniṣad.

In diesen 108 Upaniṣaden ist alles Wissen über die Absolute Wahrheit enthalten. Manchmal werden wir gefragt, warum wir gerade auf 108 Gebetsperlen chanten - der Grund dafür ist, daß es 108 Upaniṣaden gibt. Eine andere Erklärung der Vaiṣṇava-Transzendentalisten lautet, daß Kṛṣṇa im rāsa-Tanz mit 108 gopīs tanzte.

Śrī Caitanya wandte Sich also entschieden gegen die falschen Interpretationen der Upaniṣaden, womit Er Sārvabhaumas Erklärungen, die nicht die direkten Bedeutungen der Upaniṣaden wiedergaben, ablehnte. Die direkte Erklärung wird abhidhā-vṛtti genannt, und die indirekte lakṣaṇā-vṛtti oder guṇa vṛtti. Die letztere ist wertlos, da sie niemanden zu einem wirklichen Verständnis verhelfen kann.

Es gibt vier Wege des Verstehens: 1. das direkte Verstehen, 2. das hypothetische Verstehen, 3. das historische Verstehen und 4. das Verstehen durch Hören. Von diesen ist der Weg des Hörens der wirksamste, d. h., wirkliches Wissen kann dann erlangt werden, wenn man aus den vedischen Schriften hört, die als Klangrepräsentation der Absoluten Wahrheit gelten. Alle großen Weisen bestätigen, daß es das einfachste und beste ist, durch Hören zu lernen.

Kot und Knochen werden in den vedischen Schriften als unrein beschrieben, doch zur gleichen Zeit wird dort gesagt, daß der Dung der Kuh und das Gehäuse der Muschel vollkommen rein sind. Das scheint ein Widerspruch zu sein, aber weil diese Aussagen von den vedischen Schriften gemacht werden, sind sie als wahr anerkannt. Unsere weltlichen Einwände, die wir gegen diese Feststellung erheben mögen, können nichts an den Tatsachen ändern. Wer dennoch versucht, die Aussagen durch indirekte Interpretation oder mit Hilfe von Hypothesen zu begreifen, fordert die Autorität der Veden nur unnötig heraus. Mit anderen Worten: Niemand kann die vedischen Erklärungen vermöge unvollkommener Spekulationen verstehen; nur wenn man sie so akzeptiert, wie sie sind, kann man ihr Verständnis erlangen. Andernfalls leugnet man die Autorität der Veden und nimmt sich dadurch selbst die Möglichkeit, wahres Wissen zu erreichen.

Śrī Caitanya sagte, daß Menschen, die versuchen, die vedischen Aussagen zu interpretieren, nicht sehr intelligent seien, denn sie führten sich und ihre Anhänger mit ihren falschen Auslegungen lediglich in die Irre. In Indien gibt es eine Gruppe von Philosophen, die als Aryasamaji bekannt sind, und die von sich behaupten, sie würden nur die ursprünglichen Veden und keine anderen vedischen Schriften akzeptieren. Doch in Wirklichkeit sind sie nur an ihren eigenen Interpretationen interessiert, und deshalb warnte uns Śrī Caitanya davor, ihre Spekulationen zu akzeptieren, die nicht im geringsten mit den vedischen Prinzipien zu vereinbaren sind. Śrī Caitanya führte in diesem Zusammenhang ein Beispiel an, bei dem Er die Aussagen der Upaniṣaden mit dem Sonnenlicht verglich. Er sagte: »Im Sonnenlicht kann man alle Dinge klar und deutlich erkennen. Ebenso sind auch die Aussagen der Veden klar und deutlich zu verstehen; doch die Māyāvādī-Philosophen verbergen dieses Sonnenlicht mit der Wolke ihrer falschen Interpretationen.«

Śrī Caitanya erklärte weiter, daß alle Upaniṣaden auf die Absolute Wahrheit, das Brahman, hinzielen. Das Wort »Brahman« bedeutet das »Größte«, und wenn wir vom Größten sprechen, beziehen wir uns natürlich auf den Höchsten Persönlichen Gott, den Ursprung alles Existierenden. Würde das Größte nicht alle sechs Füllen in sich bergen, könnte es nicht als solches bezeichnet werden. Daraus geht eindeutig hervor, daß mit dem Größten, in dem alle sechs Füllen ruhen, der Höchste Persönliche Gott gemeint ist. Mit anderen Worten: Das Höchste Brahman ist der Höchste Persönliche Gott.

Auch in der Bhagavad-gītā wird Śrī Kṛṣṇa, der Höchste Persönliche Gott, als das Höchste Brahman akzeptiert. Der unpersönliche Brahman-Aspekt und der lokalisierte Überseelen-Aspekt sind im persönlichen Aspekt der Absoluten Wahrheit enthalten.

Wenn wir vom Höchsten Persönlichen Gott sprechen, fügen wir im allgemeinen das Wort »Śrī« hinzu. »Śrī« bedeutet, daß Er über alle sechs Füllen verfügt, bzw. ewiglich eine Person ist. Wäre der Höchste keine Person, könnte Er auch keine Füllen besitzen. Wenn die Höchste Absolute Wahrheit daher manchmal als unpersönlich beschrieben wird, so bedeutet dies lediglich, daß Er keine Person von dieser Welt ist. Um den transzendentalen Körper Gottes von materiellen Körpern zu unterscheiden, bezeichnen ihn manche Philosophen als »im materiellen Sinne unpersönlich«. Damit wollen sie sagen, daß die Höchste Wahrheit keine materielle Person ist, sondern eine spirituelle Persönlichkeit mit spirituellen Eigenschaften. In der Śvetāṣvatara Upaniṣad wird im 19. Vers des Dritten Kapitels erklärt, daß die Absolute Wahrheit keine materiellen Hände und Füße hat, sondern spirituelle Hände, mit denen Er alles annimmt, was wir Ihm opfern. Der Höchste hat keine materiellen Ohren, doch Er kann alles hören. Er hat vollkommene Sinne und kennt daher Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Er kennt alles, doch niemand kennt Ihn, denn Er befindet Sich jenseits der Reichweite der materiellen Sinne. Er ist der Ursprung aller Inkarnationen und Manifestationen Gottes; Er ist der Höchste, der Erhabene, der Absolute Persönliche Gott.

Es gibt viele vedische Hymnen, die uns zu verstehen geben, daß die Höchste Wahrheit eine Person ist, doch weisen sie alle gleichzeitig darauf hin, daß man Ihn keinesfalls mit einer Person der materiellen Welt vergleichen darf. Im Hayaṣirṣa-pañcarātra wird in einem Vers folgendes erklärt: » Die Upaniṣaden beschreiben das Höchste Brahman zuerst in Seinem unpersönlichen Aspekt, doch letzten Endes akzeptieren sie alle, daß die Höchste Wahrheit eine Person ist und Gestalt hat.« Diese Aussage wird im 15. mantra der Īṣopaniṣad bestätigt, in dem darauf hingewiesen wird, daß sich jeder im hingebungsvollen Dienen für den Höchsten Persönlichen Gott beschäftigen soll:

hiraṇmayena pātreṇa satyasyāpihitani mūkham
tat tvaṁ pūṣann apāvṛṇu satya-dharmāya dṛṣṭaye

» O mein Herr, Du bist der Erhalter des gesamten Universums. Jeder ist von Deiner Barmherzigkeit abhängig, und deshalb ist hingebungsvolles Dienen für Dich die einzig wahre Religion. Aus diesem Grunde bin ich ständig bemüht, Dir in Liebe und Hingabe zu dienen, und hoffe, daß Du mich erhältst und mich immer mehr in Deinem transzendentalen Dienst beschäftigst. Du bist der Höchste Persönliche Gott, und Deine Gestalt ist sac-cid-ānanda - ewig, voller Wissen und voller Glückseligkeit. Die Ausstrahlung, die von Dir ausgeht, ist wie der Sonnenschein über die gesamte Schöpfung verbreitet. Deine transzendentale Gestalt wird, wie die Sonne, die von gleißenden Strahlen umgeben wird, vom leuchtenden brahmajyoti umhüllt. Bitte entferne diese gleißende Ausstrahlung, damit ich Dich in Deiner ursprünglichen Form sehen kann.«

In diesem Vers der Īṣopaniṣad wird gesagt, daß sich die ewig-glückselige Gestalt des Höchsten Herrn in der gleißenden Ausstrahlung des brahmajyoti befindet. Das brahmajyoti geht vom Körper des Höchsten aus, und daher ist Er der Ursprung des brahmajyoti. Wie in der Bhagavad-gītā und auch im Hayaṣirṣa-pañcarātra bestätigt wird, geht das ursprüngliche Brahman von der Höchsten Persönlichkeit aus. Wie wir weiter aus dem 15. mantra der Īṣopaniṣad ersehen können, ist die Höchste Absolute Wahrheit sowohl unpersönlich als auch ewige Person; doch der persönliche Aspekt ist wichtiger als der unpersönliche.

In einem mantra der Taittirīya Upaniṣad heißt es: yato va imāṇi bhūtāṇi.»Die gesamte kosmische Manifestation geht von der Höchsten Absoluten Wahrheit aus und ruht zugleich in Ihr.« Die Absolute Wahrheit ist der ablative, kausale und lokative Vollbringer. Diese Symptome sind eindeutig Merkmale einer Persönlichkeit, und deshalb muß die Absolute Wahrheit eine Person sein. Weil Er die Absolute Wahrheit, der ablative Kontrollierende der kosmischen Manifestation ist, muß Er denken, fühlen und wollen können. Ohne diese drei psychischen Symptome hätte die kosmische Manifestation nicht so wunderbar entworfen und arrangiert werden können. Außerdem ist der Höchste kausal, d. h., Er ist der ursprüngliche Designer der kosmischen Manifestation, und Er ist lokativ, weil alles in Seiner Energie ruht. Dies sind Symptome, die eindeutig auf eine Persönlichkeit hinweisen.

In der Chāndogya Upaniṣad wird gesagt: »Wenn Sich der Höchste Persönliche Gott erweitern will, erschafft Er die materielle Natur.« In der Taittirīya Upaniṣad wird das gleiche noch einmal in anderen Worten bestätigt: »Der Herr blickte über die materielle Natur und bewirkte dadurch die kosmische Manifestation.« Vor diesem Zeitpunkt gab es die kosmische Manifestation noch nicht, und deshalb kann der Blick des Höchsten Herrn nicht materiell sein. Weil Sein Körper vor der materiellen Schöpfung existierte, kann auch Sein Körper nicht materiell sein. Sein Denken, Fühlen und Wollen sind ebenfalls transzendental. Mit anderen Worten: Der Geist, mit dem der Herr denkt, fühlt und will, und auch die Augen, mit denen Er über die materielle Natur blickt, müssen transzendental sein. Da Seine Sinne bereits vor der materiellen Schöpfung existierten, hat Er einen transzendentalen Körper, einen transzendentalen Geist und ein transzendentales Denken, Fühlen und Wollen. Diese Feststellung ist die Essenz aller vedischen Schriften. In den Upaniṣaden findet man immer wieder das Wort »Brahman«. Im Śrīmad-Bhāgavatam werden dieses Brahman, der Paramātma und Bhagavān, der Höchste Persönliche Gott, zusammen als die Absolute Wahrheit bezeichnet, d. h., die Brahman-Erkenntnis und die Erkenntnis des Paramātma sind nur verschiedene Stufen auf der Leiter der transzendentalen Verwirklichung. Die oberste Sprosse oder die endgültige Verwirklichung ist die Erkenntnis des Höchsten Persönlichen Gottes. Zu dieser Schlußfolgerung gelangen alle vedischen Schriften. Aufgrund der Autorität der vedischen Schriften wird der Höchste Herr, Śrī Kṛṣṇa, von allen großen Transzendentalisten als das endgültige Ziel der Brahman-Verwirklichung anerkannt und auch die Bhagavad-gītā bestätigt, daß sich keine Wahrheit über Kṛṣṇa befindet. Madhvācārya, ein berühmter ācārya im Brahma-sampradāya (in der Nachfolge von geistigen Meistern, die von Brahmā ausgeht), erklärt in seinem Kommentar zum Vedānta-sūtra, daß man mit Hilfe der autorisierten Schriften alles erkennen kann, wie es ist. Zur Bestätigung zitiert er einen Vers aus dem Bhobiṣya-Purāṇa, in dem gesagt wird, daß der Ṛk-, Sāma- und Atharva-veda, das Mahābhārata, das Pañcarātra und der ursprüngliche Rāmāyaṇa stichhaltige vedische Schriften sind, die die Unwissenheit beseitigen können. Darüber hinaus zählen auch die Purāṇas, die von den Vaiṣṇavas ebenfalls als Autorität anerkannt werden, zu den maßgeblichen vedischen Schriften. Alles, was in diesen Werken gesagt wird, sollte man ohne Einwände als endgültige Wahrheit akzeptieren, und in all diesen Schriften wird einstimmig erklärt, daß Śrī Kṛṣṇa der Höchste Persönliche Gott ist.

25. KAPITEL

Caitanya

Persönliche und unpersönliche Verwirklichung

Die Purāṇas sind als Ergänzung zu den vedischen Schriften verfaßt worden, weil manchmal das, was in den ursprünglichen Veden behandelt wird, zu schwierig ist, um von gewöhnlichen Menschen verstanden zu werden. Sie ermöglichen es jedem, auch die schwierigsten Themen zu verstehen, da sie das komplizierte Wissen der Veden auf leichtverständliche Weise in Form von Geschichten und historischen Ereignissen erklären. Im Śrīmad-Bhāgavatam wird im 14. Kapitel des Zehnten Cantos gesagt, daß Nanda Mahārāja und die übrigen Kuhhirten und Dorfbewohner vom Glück gesegnet waren, da Sich das Höchste Brahman, der Persönliche Gott, als ihr kleiner Freund mit ihnen Seiner ewigen transzendentalen Spiele erfreute. In der Śvetāṣvatara-Upaniṣad heißt es in einem mantra (āpaṇipādo jāvaṇo gṛhita), daß das Höchste Brahman gehen und alle Dinge die Ihm geopfert werden, annehmen kann, obwohl Er keine materiellen Hände und Füße hat. Diese Worte weisen eindeutig darauf hin, daß Er transzendentale Gliedmaßen haben muß, und daß Er aus diesem Grund nicht unpersönlich sein kann. Menschen, die die vedischen Prinzipien nicht verstehen können, sehen nur die unpersönlichen, materiellen Aspekte der Höchsten Absoluten Wahrheit und behaupten daher, Er sei unpersönlich und ohne Energie. Obwohl die vedischen Schriften dies nicht bestätigen, sondern vielmehr erklären, daß der Höchste Absolute unzählige Energien besitzt, versuchen die Māyāvādīs, entgegen aller Vernunft, ihre eigene Meinung durchzusetzen, nach der die Absolute Wahrheit energielos ist. Wir können jedoch aus den eindeutigen Aussagen der vedischen Schriften deutlich ersehen, daß die Absolute Wahrheit in Wirklichkeit stets voller unzähliger Energien, und deshalb ewig eine Person ist.

Im Viṣṇu-Purāṇa wird gesagt, daß das Lebewesen aus spiritueller Energie besteht. Obgleich es ein kleines Teil des Höchsten Herrn und daher voller Wissen ist, kann es sich dennoch in die materielle Welt verstricken und ist dann gezwungen, alle aus dem materiellen Dasein resultierenden Leiden zu ertragen. Je nachdem, wie sehr das Lebewesen in die materielle Natur verstrickt ist, befindet es sich in verschiedenen Lebensumständen, in denen es entweder leidet oder die Gelegenheit hat, materielles Glück zu genießen. Die ursprüngliche Energie des Höchsten Herrn, zu der auch die Lebewesen gehören, ist spirituell und unterscheidet sich daher nicht vom Höchsten Persönlichen Gott. Doch weil das Lebewesen nur ein winziger Funke dieser Energie ist, und sich als solcher entweder zur höheren, spirituellen Energie, oder zur niederen, materiellen Energie hingezogen fühlt, wird es die am Rande verlaufende Energie genannt. Sowie das Lebewesen den Wunsch entwickelt, getrennt von Kṛṣṇa zu genießen und die materielle Natur zu beherrschen, kommt es mit der materiellen Natur in Berührung und verstrickt sich so sehr darin, daß es völlig seine spirituelle Identität als Seele vergißt, sich statt dessen mit der materiellen Energie identifiziert und somit dem Angriff der dreifachen Leiden ausgesetzt ist. Wenn solch eine bedingte Seele jedoch wieder von der materiellen Verunreinigung frei geworden ist, verwirklicht sie auf der spirituellen Ebene ihre wesenseigene Position.

Die vedischen Anweisungen fordern jeden Menschen dazu auf, seine wesenseigene Position, den Höchsten Herrn, die materielle Energie und ihre Beziehung zueinander zu erkennen. Als erstes sollte man seine Bemühungen darauf richten, die wirkliche Position des Höchsten Herrn, des Persönlichen Gottes, zu verstehen. Der Höchste Herr besitzt einen ewigen, glückseligen und allwissenden Körper, und auch Seine spirituelle Energie entfaltet sich in Form von Ewigkeit, Glückseligkeit und Wissen. In Seinem Glückseligkeits-Aspekt manifestiert Er Seine Freudenenergie; in Seinem Ewigkeits-Aspekt ist Er die Ursache allen Seins, und in Seinem Allwissenheits-Aspekt ist Er das höchste Wissen. Das heißt mit anderen Worten: Die höchste Persönlichkeit, Śrī Kṛṣṇa, ist der ewige Ursprung allen Wissens, aller Freude und der Ewigkeit. Śrī Kṛṣṇa manifestiert Sich in drei verschiedenen Energien: Der inneren Energie, der am Rande verlaufenden Energie und der äußeren Energie. Zu Seiner inneren Energie gehört Er Selbst, Sein transzendentales Reich, Seine spirituellen Gefährten und alles, was sonst noch direkt mit Ihm verbunden ist; durch Seine mittlere Energie manifestiert Er Sich als die Lebewesen, und durch Seine äußere Energie schafft Er die materielle Manifestation. Jede der unzähligen Manifestationen, sowohl in der materiellen als auch in der spirituellen Welt, beruht auf den Ewigkeits-, den Freuden- und den Wissensenergien des Höchsten Herrn.

Der Höchste Herr besitzt sechs Füllen, an denen Er Sich in Seinen transzendentalen Spielen erfreut, und daher kann niemand behaupten, Er sei form- und energielos. Wer dennoch solche irreführenden Thesen vertritt, widerspricht den Veden, die eindeutig erklären, daß der Höchste Persönliche Gott der Ursprung aller Energien ist.

Das Lebewesen ist die am Rande verlaufende oder mittlere Energie des Herrn, doch weil es winzig klein ist, kann es von der äußeren Energie überwältigt und zu einer bedingten Seele werden. Wenn es jedoch wieder unter den Einfluß der spirituellen Energie gelangt, kann es Liebe zu Gott entwickeln.

In der Muṇḍakopaniṣad werden der Höchste und das Lebewesen mit zwei Vögeln verglichen, die gemeinsam auf einem Baum sitzen. Der eine Vogel versucht unter großer Angst, die Früchte des Baumes zu genießen, während ihn der andere dabei beobachtet. Sobald der Vogel, der die Früchte verzehrt, sich dem anderen Vogel zuwendet, wird er frei von allen Ängsten. Dieses Beispiel soll die Position des winzigen Lebewesens erläutern: Solange es den Höchsten Persönlichen Gott vergißt und versucht, getrennt von Ihm die Materie zu genießen, ist es den dreifachen materiellen Leiden ausgesetzt. Doch sobald es sich dem Herrn wieder zuwendet, d. h. Sein Geweihter wird, kann es von allen Ängsten und Leiden des materiellen Daseins befreit werden. Das Lebewesen ist von Natur aus dem Höchsten Herrn immer untergeordnet. Der Höchste ist stets der Meister aller Energien, und das Lebewesen befindet sich zu allen Zeiten unter dem Einfluß dieser Energien. Obwohl es dem Wesen nach eins ist mit dem Höchsten Herrn, kann es den Wunsch entwickeln, über die materielle Natur zu herrschen; doch weil es immer winzig klein bleibt, geschieht es ihm, daß es statt dessen von der materiellen Natur beherrscht wird. Diese unheilbringende Tendenz macht das Lebewesen zur mittleren Energie. Weil für das Lebewesen die Gefahr besteht, unter die Kontrolle der materiellen Natur zu geraten, ist es illusorisch zu denken, es könne jemals mit dem Höchsten Herrn eins bzw. selbst Gott werden. Wenn sich die kleine Seele auf der gleichen Ebene wie der Höchste Herr befände, könnte sie niemals von der materiellen Natur beherrscht werden.

In der Bhagavad-gītā wird das Lebewesen als eine der Energien des Höchsten Herrn beschrieben. Obwohl es richtig ist, daß die Energie niemals von ihrem Ursprung getrennt werden kann, bleibt sie doch immer die Energie und kann deshalb niemals selbst zum Ursprung der Energie werden. Mit anderen Worten: Das Lebewesen ist gleichzeitig eins mit und dennoch verschieden vom Höchsten Herrn. Im Siebten Kapitel der Bhagavad-gītā stehen zwei in diesem Zusammenhang sehr wichtige Verse. Dort wird nämlich im 4. Vers gesagt, daß Erde, Wasser, Feuer, Luft, Äther, Geist, Intelligenz und falsches Ich die acht Elemente der materiellen Energie bilden; doch schon im 5. Vers des gleichen Kapitels wird darauf hingewiesen, daß diese Energie nur von niederer Qualität ist, das Lebewesen dagegen genau wie Kṛṣṇa von qualitätsmäßig höherer, spiritueller Energie.

Alle vedischen Schriften bestätigen, daß der Höchste Persönliche Gott eine ewige, glückselige und allwissende Gestalt hat, die nicht im geringsten von der materiellen Natur berührt wird. Die Anhänger der Unpersönlichkeitslehre behaupten jedoch, die Transzendenz sei genau das Gegenteil der materiellen Welt. Aufgrund dieser Annahme schließen sie, Transzendenz müsse formlos sein, da vielfältige Formen ein charakteristisches Merkmal für die materielle Welt seien. Sie wissen nicht, daß, wie die Veden sagen, die transzendentale Welt voller spiritueller Formen ist, die sich jenseits der materiellen Natur befinden und nicht im geringsten mit den Formen in der materiellen Welt zu vergleichen sind. Deshalb muß jeder, der sich weigert, die spirituelle Gestalt des Höchsten Herrn anzuerkennen, zu den Atheisten gezählt werden. Buddha z. B. akzeptierte die Veden nicht und wurde deshalb von den Anhängern der Veden als Atheist angesehen. Obwohl die MāyāvādīPhilosophen vorgeben, den vedischen Prinzipien zu folgen, leugnen sie die Existenz des Höchsten Persönlichen Gottes und predigen im Grunde indirekt die buddhistische bzw. atheistische Philosophie. Ihre Philosophie ist sogar noch niedriger einzustufen als die buddhistische Philosophie, die direkt die Autorität der Veden abstreitet, denn die Māyāvādī-Philosophie erhebt den Anspruch, Vedānta-Philosophie zu sein, und ist daher noch gefährlicher als der Buddhismus oder unverhohlener Atheismus.

Das Vedānta-sūtra wurde von Vyāsadeva zum Wohl aller Lebewesen verfaßt, um ihnen damit zu helfen, die Philosophie des bhakti-yoga zu verstehen. Unglücklicherweise aber haben die Māyāvādīs mit ihren Kommentaren, wie z. B. dem ṣarīraka-bhāṣya die Aussagen des Vedānta-sūtra verzerrt. In diesem Kommentar der Māyāvādīs wird die Existenz der spirituellen und transzendentalen Gestalt des Höchsten Persönlichen Gottes geleugnet und das Höchste Brahman auf die Ebene des individuellen Brahman, des winzigen Lebewesens, heruntergezogen. Dazu wird sowohl dem Höchsten Herrn als auch dem Lebewesen ihre spirituelle Individualität abgesprochen, obwohl im Vedānta-sūtra eindeutig gesagt wird, das der Höchste Herr das Höchste Wesen ist, und daß es unzählige, ihm untergeordnete Lebewesen gibt. Daher ist es sehr gefährlich, sich mit Kommentaren der Māyāvādīs zu befassen. Die große Gefahr dabei ist, daß man zu der falschen Annahme gelangt, das winzige Lebewesen sei eins mit dem allmächtigen Höchsten Herrn. Und solange man diese falsche Vorstellung hegt, kann man unmöglich seine ursprüngliche Position, d. h. seine ewige, wesenseigene Aktivität im bhakti-yoga erkennen. Mit anderen Worten: Die Māyāvādī-Philosophie hat der Menschheit den denkbar schlechtesten Dienst erwiesen, indem sie die unpersönliche Auffassung vom Absoluten propagierte. Ihre Philosophen betrügen uns um die wirkliche Botschaft des Vedānta-sūtra.

Das Vedānta-sūtra stellt mehrfach fest, daß die kosmische Manifestation eine Entfaltung der Energien des Höchsten Herrn ist. Schon im ersten Vers (janmādy asya) wird gesagt, daß das Höchste Brahman der Ursprung alles Existierenden ist. Alles geht von Ihm aus, wird von Ihm erhalten und am Ende von Ihm vernichtet. Die Absolute Wahrheit ist also die Ursache von Schöpfung, Erhaltung und Vernichtung der materiellen Welt, doch Sie ist keinesfalls formlos. Wenn z. B. ein Apfelbaum Früchte hervorbringt, bedeutet dies nicht, daß er seine Form verliert; denn obwohl der Baum jedes Jahr Hunderte und Tausende von Früchten erzeugt, behält er dennoch seine Identität. Die Frucht wächst heran, bleibt für eine Zeit bestehen, fällt dann vom Baum und vergeht schließlich; doch das heißt noch lange nicht, daß auch der Baum in seine Bestandteile zerfällt und sich mit der Erde vermischt. Das Vedānta-sūtra betont deswegen von Anfang an, daß es sowohl einen Ursprung als auch Produkte dieses Ursprungs gibt.

Die Schöpfung, Erhaltung und Auflösung der materiellen Welt geschieht durch die unermeßlichen Energien Kṛṣṇas. Die kosmische Manifestation ist ein Produkt dieser Energien, obwohl der Herr Selbst und die Energien des Herrn untrennbar und nicht voneinander verschieden sind. So wie der Stein der Weisen, obwohl er unbegrenzt große Mengen Eisen in Gold verwandelt, stets unverändert bleibt, so wandelt sich auch die ewige transzendentale Gestalt des Herrn niemals, obwohl die gewaltige kosmische Manifestation von Ihm ausgeht.

Die Māyāvādīs scheuen sich nicht, die Worte Vyāsadevas im Vedānta-sūtra falsch auszulegen und unverfroren zu behaupten, der Höchste transformiere Sich, und die kosmische Manifestation sei also eine Umwandlung der Absoluten Wahrheit, die nach ihrer Theorie keine gesonderte Existenz besitzt. Diese These stimmt jedoch in keiner Weise mit der Botschaft des Vedānta-sūtra überein. Die Māyāvādī-Philosophen sagen, die materielle Natur und ihre Veränderungen seien falsch, doch sie ist keinesfalls falsch, sondern nur vergänglich. Die Philosophen der Unpersönlichkeitslehre behaupten, nur die Absolute Wahrheit sei real und die Manifestation dieser Welt sei irreal; doch das ist nicht richtig.

Die materielle Welt ist nicht falsch - sie ist vielmehr eine relative Wahrheit und daher zeitweilig. Das omkāra bzw. praṇāva ist das wichtigste Wort in den vedischen Hymnen. Es ist die Klang-Inkarnation des Höchsten Herrn, und aus dem oṁ gingen ursprünglich alle vedischen Hymnen und die materielle Welt hervor. Die weitverbreitete Meinung, das Wort »tat tvam asi« sei noch wichtiger, ist nicht richtig, denn es erklärt nur die wesenseigene Position des Lebewesens. »Tat tvam asi« bedeutet, daß das Lebewesen ein spirituelles Teilchen des Höchsten Spirituellen Ganzen ist, doch dies ist nicht die Hauptaussage des Vedānta-sūtra bzw. der vedischen Schriften.

Die falschen Auslegungen der Māyāvādīs sind atheistisch, denn diese wollen nicht die ewige transzendentale Form des Höchsten Herrn anerkennen. Aus diesem Grunde ist es ihnen nicht möglich, sich im hingebungsvollen Dienen zu beschäftigen, so daß sie dazu verurteilt sind, für immer ohne Kṛṣṇa-Bewußtsein und ohne hingebungsvolles Dienen ihr Dasein zu fristen. Einem reinen Gottgeweihten würde es niemals in den Sinn kommen, die Philosophie der Māyāvādīs als einen ernstzunehmenden Pfad zur spirituellen Verwirklichung zu betrachten. Die Māyāvādī-Philosophen treiben in der Atmosphäre der Moral und Unmoral der materiellen Welt umher und befinden sich ständig in dem Konflikt, die materiellen Freuden und Leiden entweder anzunehmen oder abzulehnen. Sie machen den Fehler, Nicht-Spirituelles, also Materielles, für spirituell zu halten, und haben die spirituelle, ewige Gestalt des Höchsten Persönlichen Gottes, Seinen Namen, Seine Eigenschaften, Seine Spiele und Sein transzendentales Reich vergessen. Sie sehen die transzendentalen Spiele, den Namen, die Gestalt und die Eigenschaften des Höchsten Herrn als ein Produkt der materiellen Natur an und sind somit für alle Zeiten den materiellen Leiden ausgesetzt, da sie stets von materiellen Leiden oder Freuden in Anspruch genommen werden. Die reinen Gottgeweihten haben mit den Māyāvādīs nichts gemeinsam, denn sie wissen, daß die unpersönliche Lehre keine Repräsentation von Ewigkeit, Glückseligkeit und Wissen sein kann. Da die Māyāvādī-Philosophen nur ein sehr unvollkommenes Wissen über die Befreiung haben und unter dem Einfluß des Materialismus stehen, verachten sie Ewigkeit, Wissen und Glückseligkeit. Diese Einstellung zeugt von ihrer Uneinsichtigkeit, denn sie haben eine Abneigung gegen das gottgeweihte Dienen, da sie das Ziel nicht verstehen können. Ihre Wortspielereien, mit denen sie zu beweisen versuchen, daß das Wissen, das Ziel des Wissens und der Wissende eins sind, zeigen eindeutig, daß ihre Intelligenz nicht sehr weit reicht.

Die Lehre von »Ursprung und Produkt« ist die autorisierte Erklärung des Vedānta-sūtra. Sie macht deutlich, daß der Herr unzählige unbegrenzte Energien besitzt, mit deren Hilfe Er unendliche voneinander verschiedene Produkte schafft. Alles steht unter Seiner Kontrolle, und daher wird Er »der Höchste Kontrollierende« oder »der Höchste Persönliche Gott« genannt, der Sich in unzähligen Energien und Erweiterungen manifestiert.

26. KAPITEL

Caitanya

Sārvabhauma Bhaṭṭācārya ist überzeugt

Nach den Unpersönlichkeitsphilosophen und den Anhängern des »Nichts« besteht die spirituelle Welt aus »Seligkeit in sinnloser Ewigkeit«. Die Philosophen des »Nichts« behaupten, letzten Endes sei alles sinnlos, wohingegen die Unpersönlichkeitsanhänger glauben, die höhere Welt bestehe lediglich aus Wissen, und es gebe dort keinerlei Aktivität. Beide Auffassungen zeugen von der geringen Intelligenz ihrer Anhänger, denn diese wollen mit ihren unvollkommenen Spekulationen in den vollkommenen Bereich der spirituellen Welt eindringen. Nachdem der Anhänger der Unpersönlichkeitslehre die schmerzliche Erfahrung gemacht hat, daß materielle Handlungen nur Leid mit sich bringen, zieht er den Schluß, daß es im spirituellen Leben keinerlei Aktivität geben könne. Die spirituellen Aktivitäten im hingebungsvollen Dienen sind und bleiben ihm für immer ein Rätsel.

Die Vaiṣṇava-Philosophen jedoch wissen sehr gut, daß die Absolute Wahrheit, der Höchste Persönliche Gott, niemals unpersönlich oder ein »Nichts« sein kann, denn Er besitzt unzählige Energien. Kṛṣṇa ist so unvorstellbar mächtig, daß Er imstande ist, Sich vielfach zu erweitern und zahllose Energien zu manifestieren und immer noch der gleiche Absolute Höchste Persönliche Gott zu bleiben. Er behält zu allen Zeiten Seine transzendentale Position, obwohl Er Sich zugleich in vielfache Formen erweitert und durch Seine unzähligen mannigfaltigen Energien überall gegenwärtig ist.

Auf diese Weise zeigte Śrī Kṛṣṇa Caitanya die vielen Defekte in der Māyāvāda-Philosophie auf, und obschon Bhaṭṭācārya anfangs versuchte, seinen Standpunkt mit Wortspielereien und sogenannter Logik zu behaupten, gelang es Śrī Caitanya doch, alle seine Argumente zu widerlegen und zu beweisen, daß das letztliche Ziel der vedischen Schriften darin besteht, uns drei Dinge zu ermöglichen: 1) das Erkennen unserer Beziehung zur Höchsten Absoluten Wahrheit, 2) das Handeln gemäß dieser Erkenntnis, und 3) das Erreichen der höchsten Vollkommenheit des Lebens, Liebe zu Gott. Wer etwas anderes als diese Ziele propagiert, wird, so erklärte der Herr dem Bhaṭṭācārya, die Vollkommenheit niemals erreichen, sondern vielmehr ein Opfer seiner falschen Vorstellungen bleiben.

Śrī Caitanya zitierte als nächstes einige Verse aus den Purāṇas, mit denen Er belegte, daß Śaṅkarācārya vom Höchsten Persönlichen Gott den direkten Befehl erhalten hatte, die Māyāvāda-Philosophie zu verbreiten. Er führte zunächst einen Vers aus dem Padma Purāṇa an, in dem gesagt wird, daß der Herr Śiva den Auftrag gab, irreführende Interpretationen der vedischen Schriften zu verkünden und somit die Menschen von der eigentlichen Bedeutung der Veden abzulenken. Der Herr sprach: »Versuche die Menschen zu Atheisten zu machen, indem du sie mit erfundenen Interpretationen verwirrst, so daß sie die religiösen Prinzipien vernachlässigen und uneingeschränkt immer mehr Kinder zeugen.« Im gleichen Padma Purāṇa erklärt Śiva seiner Frau Pārvatī, daß er im Zeitalter des Kali als brāhmaṇa erscheinen werde, um unvollkommene Kommentare zu den Veden zu verbreiten, die als Māyāvāda-Philosophie bekannt werden würden, und die in Wirklichkeit nur eine Abwandlung der atheistischen Philosophie Buddhas seien.

Nachdem Bhaṭṭācārya die Ausführungen Śrī Caitanyas zur Māyāvāda-Philosophie vernommen hatte, wußte er, daß er sich geschlagen geben mußte, und blieb deshalb lange Zeit, ohne auch nur ein Wort entgegnen zu können, regungslos sitzen. Doch Śrī Caitanya ermutigte ihn: »Mein lieber Bhaṭṭācārya, lasse dich von diesen Erklärungen nicht aus der Fassung bringen. Bitte glaube Mir, daß hingebungsvolles Dienen für den Höchsten Herrn die höchste Stufe der Vollkommenheit ist.

Hingebungsvolles Dienen ist so anziehend, daß selbst Menschen, die bereits befreit sind, durch die unvorstellbare Macht des Höchsten zu Gottgeweihten werden.« Es gibt in den vedischen Schriften viele Beispiele dafür: Im Śrīmad-Bhāgavatam z. B. wird im 7. Kapitel des Ersten Cantos im berühmten ātmārāma-Vers gesagt, daß sogar selbstverwirklichte Seelen, die von aller materiellen Anhaftung frei sind, zum hingebungsvollen Dienen angezogen werden, wenn sie von Śrī Kṛṣṇas transzendentalen Spielen hören. Daß dies möglich ist, läßt sich nur damit erklären, daß der Höchste Persönliche Gott der Besitzer unzähliger allanziehender und völlig transzendentaler Eigenschaften ist.

Jedes Lebewesen versteht, wenn sein Bewußtsein rein geworden ist, daß es der ewige Diener des Höchsten Herrn ist, und nur im Bann der Illusion hält es sich für den grob- und feinstofflichen Körper. Diese falsche Vorstellung bildet die Grundlage für die Lehre von der Veränderung des ursprünglichen Zustandes. Das winzige Teil des Höchsten, die spirituelle Seele, ist der falschen, körperlichen Lebensauffassung nicht für immer unterworfen, denn die Bedeckung des Lebewesens, der grob- und feinstoffliche Körper nämlich, ist keineswegs seine ewige Gestalt, sondern wechselt, solange es nicht von seiner illusionären Existenz befreit ist. Solange es sich jedoch mit Körper und Geist identifiziert, befindet es sich zweifellos in einem veränderten Zustand, denn es lebt für diese Zeit nicht im spirituellen Reich, sondern in der materiellen Welt. Die Māyāvādī-Philosophen machen sich leider diese Lehre von der Veränderung des ursprünglichen Zustandes zunutze und behaupten, das Lebewesen halte sich manchmal irrtümlich für ein winziges Teil des Höchsten, obwohl es in Wirklichkeit selbst der Höchste sei. Diese Lehre ist jedoch so widersinnig, daß sie für keinen vernünftigen Menschen annehmbar ist.

Sārvabhauma Bhaṭṭācārya bat Śrī Caitanya schließlich, den berühmten ātmārāma-Vers zu erklären, worauf ihm der Herr entgegnete, daß Er diesen Vers erst dann erklären wolle, wenn Bhaṭṭācārya zuvor seine Interpretation abgegeben hätte. Darauf begann Bhaṭṭācārya, den ātmārāma-Vers mit Hilfe von Logik und Grammatik auf neun Arten zu interpretieren. Als er geendet hatte, lobte der Herr seine große Gelehrtheit und sagte dann: »Mein lieber Bhaṭṭācārya, Mir ist zwar bekannt, daß du gleichsam die Gelehrsamkeit in Person bist, an Scharfsinn dem großen Bṛhaspati gleich, und daß du es verstehst, jeden beliebigen Teil der ṣāstras wortgewandt zu erklären, doch all deine Interpretationen beruhen mehr oder weniger auf akademischer Bildung. Du scheinst nicht zu wissen, daß es noch eine andere Art der Erklärung gibt.«

Und so begann Śrī Caitanya, den ātmārāma-Vers auf Seine Weise zu erläutern, indem Er ihn zunächst in seine analytischen Bestandteile zerlegte: 1) ātmārāmāḥ, 2) ca, 3) munayaḥ, 4) nirgranthāḥ, 5) api, 6) urukrame, 7) kurvanti, 8) ahaitukīm, 9) bhaktim, 10) ittham-bhūta, 11) guṇaḥ und 12) hariḥ. Wie wir bereits wissen, hatte der Herr auch Sanātana Gosvāmī diesen Vers ausführlich erklärt.1 Bei Seiner Interpretation ließ Śrī Caitanya die neun Versionen Bhaṭṭācāryas völlig außer acht und erklärte den Vers statt dessen anhand seiner zwölf Bestandteile, wobei Er für jeden einzelnen Begriff erst die Grundbedeutung und dann vier, zuweilen auch fünf weitere Bedeutungen definierte. Auf diese Weise gelang es Ihm, den ātmārāma-Vers auf einundsechzig verschiedene Arten zu erklären. Zusammenfassend sagte Er dann: »Der Höchste Persönliche Gott verfügt über unermeßliche Energien und unendlich viele transzendentale Eigenschaften. Sie sind unvorstellbar, und alle Vorgänge zur Selbstverwirklichung befassen sich mit diesen unvorstellbaren Eigenschaften, um sie wenigstens zu einem gewissen Teil verständlich zu machen. Die Gottgeweihten jedoch erkennen die unergründliche Macht des Höchsten Herrn einfach an, denn sie wissen, daß es unmöglich ist, den Höchsten zu begreifen. Selbst befreite Seelen wie die Kumāras und Śukadeva Gosvāmī fühlten sich zu den transzendentalen Eigenschaften des Höchsten Herrn hingezogen.«

1 Vgl. 3. Kapitel, »Die Unterweisung Sanātana Gosvāmīs«

Als Bhaṭṭācārya voller Bewunderung die Erklärungen Śrī Caitanyas vernahm, erkannte er, daß Caitanya Mahāprabhu niemand anderes als Kṛṣṇa Selbst sein konnte. Zugleich wurde Ihm auch klar, wie unbedeutend er selbst war, und so fiel er dem Herrn zu Füßen und sagte: »In meiner Unwissenheit hielt ich Dich für einen gewöhnlichen Menschen; ich habe daher große Schuld auf mich geladen. Bitte verzeih mir, und segne mich mit Deiner grundlosen Barmherzigkeit!« Śrī Caitanya freute Sich sehr, den großen Gelehrten so demütig zu sehen, und in Seiner grundlosen Güte offenbarte Er ihm erst Seine vierarmige und dann Seine sechsarmige Form. Als Sārvabhauma nun diese transzendentalen Formen erblickte, fiel er dem Herrn wiederholt zu Füßen und begann Ihn mit selbst verfaßten Gebeten zu preisen. Er war ohne Zweifel ein großer Gelehrter, und so war er, nachdem er die Barmherzigkeit des Höchsten Herrn empfangen hatte, befähigt, die Taten und Kräfte des Höchsten in einer für alle Menschen verständlichen Weise zu beschreiben. So konnte er z. B. auch über den Nutzen sprechen, den man erfährt, wenn man den mahā-mantra chantet: »Hare Kṛṣṇa, Hare Kṛṣṇa, Kṛṣṇa Kṛṣṇa, Hare Hare - Hare Rāma, Hare Rāma, Rāma Rāma, Hare Hare.« Es wird gesagt, daß Sārvabhauma Bhaṭṭācārya auf der Stelle einhundert Verse verfaßte, in denen er die transzendentalen Taten des Herrn pries. Diese Verse sind so vollendet, daß nicht einmal Bṛhaspati, der größte Dichter auf den himmlischen Planeten, solche Kunstwerke hätte ersinnen können. Dem Herrn gefielen die Gebete Bhaṭṭācāryas sehr, und in Seiner Freude umarmte Er ihn. Als Er Sārvabhauma berührte, wurde dieser von Ekstase überwältigt und verlor fast das Bewußtsein. Er weinte, zitterte, bebte, schwitzte und tanzte, sang und warf sich immer wieder vor den Lotosfüßen Śrī Caitanyas zu Boden. Sein Schwager Gopīnāthācārya und die anderen Geweihten waren erstaunt, Bhaṭṭācārya in diesem Zustand zu sehen, denn sie konnten es kaum fassen, daß er nun zu einem reinen Gottgeweihten geworden war.

Gopīnāthācārya wandte sich nach der wunderbaren Wandlung seines Schwagers an Śrī Caitanya und sprach Ihm seine Dankbarkeit aus; er sagte: »Mein lieber Herr, nur durch Deine Barmherzigkeit ist Bhaṭṭācārya von einem hartherzigen Menschen zu einem großen Gottgeweihten geworden.« Doch Caitanya Mahāprabhu entgegnete: »Nur durch die Gnade eines wirklichen Gottgeweihten kann selbst ein Mensch, der hart ist wie ein Stein, zu einem milden, blumengleichen Geweihten werden. «

Gopīnāthācārya hatte sich nämlich ernsthaft gewünscht, daß sein Schwager ein Gottgeweihter werden würde. Ihm war deshalb viel daran gelegen, daß der Herr Sārvabhauma mit Seiner Barmherzigkeit segnete, und daher war er glücklich, als er sah, daß sein Wunsch in Erfüllung gegangen war. An dieser Begebenheit kann man sehen, daß ein Geweihter des Herrn sogar noch barmherziger ist als der Herr Selbst. Wenn ein Gottgeweihter jemandem seine Barmherzigkeit erweisen will, erfüllt der Herr ihm diesen Wunsch in solcher Weise, daß der derart Begünstigte schließlich durch die Gnade des Höchsten auch zu einem Gottgeweihten wird.

Śrī Caitanya beruhigte Bhaṭṭācārya schließlich und bat ihn, nach Hause zu gehen; doch der Gelehrte begann erneut, den Herrn zu preisen, und sagte: »Du bist aus der spirituellen Welt gekommen, um alle gefallenen Seelen zu erretten, und dies ist auch nicht weiter schwierig für Dich; aber es ist trotzdem erstaunlich, daß Du selbst einen so hartherzigen Menschen wie mich bekehren konntest. Ich bin ein scharfsinniger Logiker und erfahrener Grammatiker, der die Veden genau kennt; ich bin hart wie Eisen, und dennoch ist Dein Einfluß so stark, daß Du mein eisernes Herz schmelzen konntest.« Der Herr kehrte nach diesem Treffen zu Seinem Quartier zurück, und Sārvabhauma Bhaṭṭācārya ließ Ihm noch am selben Tag durch Gopīnāthācārya verschiedene prasāda-Zubereitungen aus dem Jagannātha-Tempel bringen.

Am nächsten Morgen besuchte Śrī Caitanya schon in der Frühe den Jagannātha-Tempel, um an der maṅgala-ārātrika-Zeremonie teilzunehmen. Als Er den Tempel betrat, hängten Ihm die Priester sogleich eine Blumengirlande der transzendentalen Bildgestalt Gottes um den Hals und boten Ihm prasāda an, das der Herr mit Freuden annahm. Gleich nach der Zeremonie ging Er mit dem prasāda und den Blumen zum Hause Bhaṭṭācāryas, um Seinem Geweihten die Geschenke zu bringen. Obwohl es noch sehr früh war, lag Sārvabhauma schon wach, denn er ahnte, daß der Herr zu ihm kommen würde. Als er dann den Herrn an der Tür klopfen hörte, erhob er sich rasch von seinem Lager und öffnete, laut »Kṛṣṇa! Kṛṣṇa!« rufend, eilig die Tür. Als Sārvabhauma Śrī Caitanya vor sich sah, war er vor Freude fast außer sich und hieß Ihn herzlich willkommen. Der Herr bot ihm sogleich das prasāda an, das Er aus dem Tempel Jagannāthas mitgebracht hatte, und Sārvabhauma Bhaṭṭācārya, der die Gaben voller Freude entgegennahm, begann unverzüglich, die geopferten Speisen zu verzehren - er nahm sich nicht einmal Zeit, vorher sein Bad zu nehmen, seine Morgenpflichten zu erfüllen oder seine Zähne zu reinigen. Tatsächlich war Sārvabhauma zu diesem Zeitpunkt bereits von allen Verunreinigungen der materiellen Anhaftung befreit, und während er das prasāda aß, zitierte er folgenden Vers aus dem Padma Purāṇa: »Selbst prasāda, das alt und trocken ist oder aus einem weit entfernten Tempel gebracht wurde, sollte man sofort, ohne an Regeln und Pflichten zu denken, zu sich nehmen.« In den ṣāstras wird also vorgeschrieben, daß man prasāda gleich nachdem man es empfangen hat und ohne Rücksicht auf Zeit und Ort essen soll - das ist eine Anweisung des Höchsten Persönlichen Gottes. Ungeopferte Nahrung kann man nicht zu jeder Zeit und in jedem Zustand essen, doch bei prasāda, Kṛṣṇa geopferten Speisen, gibt es keine solchen Unterschiede, und man kann es ohne Rücksicht auf Zeit, Ort und Umstände zu sich nehmen; prasāda ist immer transzendental.

Śrī Caitanya freute Sich daher sehr, als Er sah, daß Bhaṭṭācārya, der früher alle Regeln und Regulierungen aufs peinlichste befolgt hatte, jetzt das prasāda aß, ohne sich länger um diese Unterweisungen zu kümmern. In Seiner Freude umarmte Er Bhaṭṭācārya einige Male, woraufhin beide in transzendentaler Ekstase zu springen und zu tanzen begannen. Śrī Caitanya erklärte, Seine Mission in Jagannātha Purī sei nun erfüllt, da Er einen Menschen wie Sārvabhauma Bhaṭṭācārya von Kṛṣṇa habe überzeugen können.

Der Herr sagte weiter: »Nun kann Ich gewiß sein, Vaikuṇṭha zu erreichen«, denn das Leben eines Gottgeweihten ist erfolgreich, wenn er einen anderen zu einem reinen Gottgeweihten macht. Gelingt ihm dies, wird er mit Sicherheit in die spirituelle Welt zurückkehren. Der Herr freute Sich so sehr über Bhaṭṭācārya, daß Er ihn immer wieder segnete; dann fuhr Er fort: »Mein lieber Bhaṭṭācārya, da du nun ein reiner Gottgeweihter geworden bist, ist Kṛṣṇa gewiß sehr zufrieden mit dir. Du bist nun von der Illusion befreit, mit dem materiellen Körper identisch zu sein, und damit auch von jeglicher Verstrickung in die materielle Natur; deshalb kannst du jetzt endlich zurück nach Hause gehen, zurück zu Gott.« Im Śrīmad-Bhāgavatam heißt es im 7. Kapitel des Zweiten Cantos: »Jeder, der Zuflucht bei den Lotosfüßen des Höchsten Herrn sucht, erlangt mit Sicherheit die Barmherzigkeit des Höchsten, der grenzenlos ist. Mit Seinem Einverständnis kann eine solche, Ihm hingegebene Seele den Ozean der Unwissenheit überqueren. Wer sich jedoch irrtümlich mit dem materiellen Körper identifiziert, kann nicht die Zuneigung und die grundlose Barmherzigkeit des Höchsten Persönlichen Gottes erlangen.«

Von dem Tag an, da der Herr Sārvabhauma Bhaṭṭācārya zu einem reinen Gottgeweihten gemacht hatte, interpretierte dieser die vedischen Schriften nie mehr, ohne den Pfad des hingebungsvollen Dienens zu berücksichtigen, und Gopīnāthācārya freute sich so sehr über die Bekehrung seines Schwagers, daß er lange in Ekstase tanzte und »Hare Kṛṣṇa, Hare Kṛṣṇa, Kṛṣṇa Kṛṣṇa, Hare Hare - Hare Rāma, Hare Rāma, Rāma Rāma, Hare Hare« chantete.

Am nächsten Tag ging Bhaṭṭācārya, nachdem er schon früh morgens den Jagannātha-Tempel besucht hatte, zu Śrī Caitanya, warf sich dem Herrn zu Füßen und entschuldigte sich für seine früheren Vergehen. Er bat den Herrn bei dieser Gelegenheit, etwas über hingebungsvolles Dienen zu sagen, woraufhin ihm Caitanya Mahāprabhu folgenden Vers vortrug:

harer nāma harer nāma harer nāmaiva kevalam
kalau nāsty eva nāsty eva nāsty eva gatir anyathā

»Im Zeitalter des Kali, der Zeit des Zankes und der Heuchelei, gibt es keinen anderen Weg, der zur Selbstverwirklichung führt, als das Chanten der heiligen Namen Gottes.« Der Herr erläuterte diesen Vers näher, und als Gopīnāthācārya, der auch anwesend war, sah, wie sein Schwager mehr und mehr in Ekstase geriet, sagte er: »Lieber Bhaṭṭācārya, vor einiger Zeit sagte ich einmal zu dir, daß du alles über hingebungsvolles Dienen verstehen könntest, wenn du mit der Barmherzigkeit des Herrn gesegnet werden würdest. Heute nun erfüllt sich meine Prophezeiung.«

Sārvabhauma Bhaṭṭācārya brachte daraufhin auch Gopīnāthācārya seine Ehrerbietungen dar und erwiderte: »Mein lieber Schwager, allein durch deine Gnade bin ich mit der Barmherzigkeit des Höchsten Persönlichen Gottes gesegnet worden.« Die Barmherzigkeit Kṛṣṇas kann nur durch die Gnade eines reinen Gottgeweihten erlangt werden, und so wurde auch Bhaṭṭācārya nur deshalb mit Śrī Caitanyas Barmherzigkeit gesegnet, weil dies Gopīnāthācāryas sehnlichster Wunsch gewesen war.

»Mein lieber Schwager«, fuhr Bhaṭṭācārya fort, »du bist schon lange ein großer Geweihter des Herrn, wohingegen ich durch meine sogenannte akademische Bildung völlig verblendet war; daher konnte ich die Barmherzigkeit des Herrn nur durch Deine Hilfe erhalten.« Der Herr freute Sich, als Er diese Worte aus Bhaṭṭācāryas Mund vernahm und umarmte ihn zur Bestätigung. Auf Bitten Śrī Caitanyas hin machte sich dann Bhaṭṭācārya zusammen mit Jagadānanda und Dāmodara, zwei vertrauten Gefährten des Herrn, auf den Weg zum Jagannātha-Tempel. Nachdem sie sich einige Zeit dort aufgehalten und reichlich prasāda erhalten hatten, kehrten sie nach Hause zurück, und Bhaṭṭācārya schickte seinen Diener mit dem prasāda zu Caitanya Mahāprabhu und bat außerdem Jagadānanda, dem Herrn zwei Verse zu übergeben, die er auf ein Palmblatt geschrieben hatte. Als Śrī Caitanya diese beiden Verse erhielt und las, riß Er das Blatt sofort in Stücke, denn Er liebte es nicht, von anderen gepriesen zu werden; doch Mukunda Datta hatte die Verse wohlweislich vorher abgeschrieben, so daß uns ihr Inhalt bekannt ist. Sie lauten: 1) » Ich gebe mich dem Höchsten Persönlichen Gott hin, der als Śrī Kṛṣṇa Caitanya Mahāprabhu erschienen ist. Er ist der Ozean der Barmherzigkeit, und Er ist aus der spirituellen Welt gekommen, um uns Loslösung von der Materie, transzendentales Wissen und hingebungsvolles Dienen zu lehren.« 2) »Als der Herr sah, daß das gottgeweihte Dienen im Laufe der Zeit in Vergessenheit geraten war, erschien Er als Śrī Kṛṣṇa Caitanya, um die Prinzipien des hingebungsvollen Dienens wieder einzuführen. Wir alle sollten uns daher Seinen Lotosfüßen hingeben und von Ihm lernen, wie man Kṛṣṇa in Liebe und Hingabe dient.«

Diese beiden wichtigen Verse werden von den großen ācāryas als kostbare Juwelen angesehen, und Sārvabhauma Bhaṭṭācārya ist durch sie zu einem der berühmtesten Gottgeweihten geworden. Sārvabhauma hatte von nun an nur noch den Wunsch, dem Herrn in Hingabe zu dienen. Sein einziges Interesse bestand darin, ununterbrochen an Śrī Caitanya zu denken, und diese Meditation wurde zusammen mit dem Chanten des Hare-Kṛṣṇa-mantras zum Hauptinhalt seines Lebens.

Als er wieder einmal den Herrn besuchte, trug er Ihm folgenden Vers aus dem Śrīmad-Bhāgavatam vor, der im 14. Kapitel des Zehnten Cantos zu finden ist: »Wer mit Gedanken, Worten und Taten dem Höchsten Herrn in Hingabe dient, wird, selbst wenn er aufgrund vergangener Sünden ein leidvolles Leben führt, die Befreiung erlangen.« Nachdem Sārvabhauma diesen Vers zitiert hatte, fragte der Herr ihn verwundert, warum er das Wort »mukti«, das dort für Befreiung gebraucht wird, durch das Wort »bhakti« (hingebungsvolles Dienen) ersetzt habe. Sārvabhauma Bhaṭṭācārya antwortete: » Mukti ist nicht so wertvoll wie bhakti, und daher wird mukti von den reinen Gottgeweihten als eine Art Bestrafung angesehen. Außerdem kann jemand, der den transzendentalen Höchsten Persönlichen Gott nicht anerkennt, auch niemals die Absolute Wahrheit erkennen. Wer das transzendentale Wesen von Kṛṣṇas Körper nicht versteht, wird ein Feind des Herrn und verachtet oder bekämpft Ihn. Wenn ein solcher Feind vom Herrn persönlich getötet wird, geht er in die Brahman-Ausstrahlung des Höchsten ein, doch diese mukti (Befreiung) verabscheuen die Gottgeweihten. Es gibt fünf Arten der Befreiung: 1) auf dem gleichen Planeten wie der Herr zu leben, 2) mit dem Herrn persönlich zusammenzusein, 3) einen transzendentalen Körper wie der Herr zu haben, 4) die gleichen Reichtümer wie der Höchste zu besitzen, und 5) mit dem Herrn eins zu werden. Der Gottgeweihte jedoch hat nur den einen Wunsch, im transzendentalen Dienst für den Herrn beschäftigt sein zu dürfen, und interessiert sich daher nicht für die oben genannten Befreiungsarten. Besonders zuwider ist ihm die Vorstellung, mit dem Herrn eins zu werden und dabei seine individuelle Identität zu verlieren - lieber würde er in der Hölle leben. Es kann jedoch durchaus vorkommen, daß ein Gottgeweihter eine der vier anderen Befreiungsarten anstrebt, da er dabei immer noch im hingebungsvollen Dienen für den Herrn beschäftigt sein kann. Es gibt zwei Wege, um in die Transzendenz einzugehen: 1) mit der unpersönlichen Brahman-Ausstrahlung zu verschmelzen und 2) mit dem Höchsten Persönlichen Gott Selbst eins zu werden. Die zuletzt genannte Art der Befreiung wird von dem Gottgeweihten noch heftiger abgelehnt als die erste, denn er möchte nichts anderes, als dem Höchsten Herrn ständig in transzendentaler Liebe dienen.

Als Śrī Caitanya die Begründung Bhaṭṭācāryas für die Änderung des Wortes »mukti« hörte, entgegnete Er: »Das Wort »mukti« hat noch eine andere Bedeutung, die du außer acht gelassen hast. »Muktipāda« bezieht sich direkt auf den Höchsten Persönlichen Gott. Es bedeutet nämlich erstens, daß sich unzählige befreite Seelen im hingebungsvollen Dienen für Kṛṣṇa beschäftigen, und zweitens, daß Kṛṣṇa das endgültige Ziel der Befreiung ist. In beiden Fällen ist es also Kṛṣṇa, der als das letztliche Ziel bezeichnet wird.« Sārvabhauma ließ sich jedoch nicht von seiner Meinung abbringen, und entgegnete: »Trotzdem ziehe ich das Wort »bhakti« immer noch vor, denn »mukti« bedeutet in erster Linie »eins mit dem Höchsten zu werden«, und jedesmal, wenn ich das Wort »mukti« höre, werde ich an diese Bedeutung erinnert. Deshalb hasse ich es, dieses Wort auszusprechen, wohingegen es mir große Freude bereitet, das Wort »bhakti« zu hören.« Bei dieser Antwort lachte Śrī Caitanya auf und umarmte Bhaṭṭācārya mit großer Zuneigung. Der gleiche Bhaṭṭācārya, der früher mit Begeisterung über Māyāvāda-Philosophie gesprochen hatte, war nun ein so ernsthafter Gottgeweihter geworden, daß es für ihn unerträglich war, das Wort »mukti« auch nur in den Mund zu nehmen. Dies war nur durch die grundlose Barmherzigkeit Śrī Caitanyas möglich, der durch Seine Gnade gleich einem Stein der Weisen, Eisen in Gold umwandeln kann. Bald bemerkten auch die anderen Einwohner von Jagannātha Purī, daß eine große Veränderung in Bhaṭṭācārya stattgefunden hatte, und ihnen war klar, daß dies nur durch die unvorstellbare Macht Śrī Caitanyas möglich gewesen war. Sie waren sich darüber einig, daß Śrī Caitanya niemand anderes sein konnte als Kṛṣṇa Selbst.

27. KAPITEL

Caitanya

Śrī Caitanya und Rāmānanda Rāya

Der Autor des Caitanya-caritāmṛta, Kṛṣṇadāsa Kavirāja Gosvāmī, vergleicht Śrī Kṛṣṇa Caitanya Mahāprabhu mit einem Ozean transzendentalen Wissens und Rāmānanda Rāya mit einer Wolke, die aus diesem Ozean aufgestiegen ist. Rāmānanda Rāya war ein fortgeschrittener Gelehrter in der Wissenschaft des hingebungsvollen Dienens, und durch die Barmherzigkeit Śrī Kṛṣṇa Caitanyas empfing er, gleich einer Wolke, die ihr Wasser aus dem Ozean erhält, alle transzendentalen Erkenntnisse von Ihm. Wie eine Wolke, die über dem Ozean entsteht, wieder zum Ozean zurückkehrt, nachdem sie ihr Wasser überall auf dem Land verteilt hat, so hatte Rāmānanda Rāya durch die Gnade Śrī Caitanyas sehr vertrauliches Wissen über das hingebungsvolle Dienen empfangen und kehrte später, nachdem er sich vom Regierungsdienst zurückgezogen hatte, zu Śrī Caitanya zurück.

Als der Herr durch den südlichen Teil Indiens reiste, besuchte er auch den Tempel von Jiayar-Nṛsiṁha, der sich noch heute, nur acht Kilometer von der Eisenbahnstation Bisakhapattan entfernt, an einem Ort namens Singachalam befindet. Dieser Tempel steht auf einem Hügel und überragt alle anderen Tempel der Umgebung. Noch heute kann man dort viele kunstvolle Skultpuren bewundern, und weil dieser Tempel so berühmt ist, ist er auch sehr wohlhabend. Im Jiayar-Nṛsiṁha-kṣetra gibt es eine Inschrift, die besagt, daß vor langer Zeit der König von Vijynagar den ganzen Tempel mit Gold verzieren und sogar den Körper der transzendentalen Bildgestalt Nṛsiṁhas* vergolden ließ. In der Nähe des Tempels, der von Priestern des Rāmānujācārya-Ordens verwaltet wird, wurden einige kleinere Gebäude errichtet, um Besuchern kostenfreie Unterkunft zu gewähren.

* Inkarnation Kṛṣṇas

Als Śrī Caitanya den Jiayar-Nṛsiṁha-kṣetra besuchte, pries Er die transzendentale Bildgestalt Nṛsiṁhas, indem Er folgenden Vers aus dem Śrīmad-Bhāgavatam zitierte: »Śrī Nṛsiṁha ist unerbittlich gegenüber den Dämonen und Nicht-Gottgeweihten, doch Er ist sehr gütig zu den hingegebenen Seelen wie dem Gottgeweihten Prahlāda.« Śrī Nṛsiṁha, eine Inkarnation des Höchsten, in einer Gestalt, die halb einem Löwen, halb einem Menschen gleicht, erschien; als Prahlāda, ein noch sehr junger Geweihter des Herrn, von seinem dämonischen Vater Hiraṇyakaṣipu mit dem Tode bedroht wurde. Gleich einem Löwen, der zwar für andere Tiere sehr gefährlich ist, doch mit seinen Jungen zärtlich spielt, war auch Nṛsiṁha, der den Dämonen Hiraṇyakaṣipu wütend in Stücke riß, Seinem Gottgeweihten, Prahlāda, sehr zugeneigt und beschützte ihn vor allen Gefahren.

Als der Herr Seinen Besuch im Tempel von Jiayar-Nṛsiṁha beendet hatte, wanderte Er weiter nach Süden und erreichte schließlich das Ufer der Godavarī. Der Fluß erinnerte Ihn sofort an die Yamunā in Vṛndāvana, und von Ekstase ergriffen hielt Er die anmutigen Bäume am Ufer für den Wald von Vṛndāvana. Nachdem Śrī Caitanya Sein Bad genommen hatte, setzte Er Sich am Ufer nieder und chantete »Hare Kṛṣṇa, Hare Kṛṣṇa, Kṛṣṇa Kṛṣṇa, Hare Hare - Hare Rāma, Hare Rāma, Rāma Rāma, Hare Hare.« Kurz darauf sah Er den Gouverneur der Provinz, Śrī Rāmānanda Rāya, in Begleitung seiner Gefolgsleute, vieler brāhmaṇas und einer Musikkapelle sich dem Ufer des Flusses nähern. Der Herr hatte sich bereits bei Sārvabhauma Bhaṭṭācārya nach Rāmānanda Rāya erkundigt, und Bhaṭṭācārya hatte Ihm bei dieser Gelegenheit vorgeschlagen, Sich mit dem Gouverneur in Kabur zu treffen. Als Śrī Caitanya Rāmānanda Rāya sah, wollte Er ihm schon zur Begrüßung entgegengehen, doch dann erinnerte Er Sich daran, daß Er zu den sannyāsīs gehörte, denen es im allgemeinen untersagt ist, mit Politikern zu verkehren, und so hielt Er sich zurück. Rāmānanda Rāya jedoch, der ein großer Gottgeweihter war, fühlte sich sofort zu Śrī Caitanya hingezogen, und so ging er zu dem jungen sannyāsī, um Ihn aus der Nähe zu betrachten. Als Rāmānanda Rāya Śrī Caitanya erreichte, warf er sich langausgestreckt vor dem Herrn zu Boden und brachte Ihm seine Ehrerbietungen dar; Śrī Caitanya empfing ihn, indem Er »Hare Kṛṣṇa, Hare Kṛṣṇa, Kṛṣṇa Kṛṣṇa, Hare Hare - Hare Rāma, Hare Rāma, Rāma Rāma, Hare Hare« chantete, und als sich Rāmānanda Rāya erhob und seinen Namen nannte, umarmte ihn Caitanya, worauf beide in Ekstase zu weinen begannen. Die brāhmaṇas, die Rāmānanda Rāya begleiteten, waren sehr verwundert, als sie sahen, wie der sannyāsī und der Gouverneur bei ihrer Umarmung von transzendentaler Ekstase überwältigt wurden. Sie befolgten strikt die vedischen Rituale und konnten daher nicht im geringsten die Symptome der Hingabe verstehen, die die Beiden zeigten. Es überraschte sie vielmehr, daß ein so großer sannyāsī einen kṣatriya berührte, und noch erstaunlicher war es für sie, daß Rāmānanda Rāya, der Gouverneur und praktisch König jener Provinz war, weinte, nur weil er einen sannyāsī berührte. Während sich die brāhmaṇas über das wundersame Verhalten ihres Herrn die Köpfe zerbrachen, erkannte Śrī Caitanya ihre Verwirrung, und so zügelte Er Sich.

Sie setzten sich also gemeinsam nieder, und der Herr sagte zu Seinem Freund: »Sārvabhauma Bhaṭṭācārya pries Dich stets, wenn ich ihn traf und bat Mich vor allem, dich zu besuchen.« Rāmānanda Rāya entgegnete: »Sārvabhauma betrachtet mich als einen seiner Geweihten, und daher war er so gütig, mich Dir zu empfehlen.« Rāmānanda Rāya freute sich sehr, daß der Herr nicht gezögert hatte, ihn zu berühren, obgleich er ein reicher Mann war. Ein König oder ein Gouverneur, d. h. ein Politiker, denkt im allgemeinen ständig an Politik und Finanzen, und daher sollen sannyāsīs solche Menschen meiden. Doch Śrī Caitanya wußte, daß Rāmānanda Rāya ein großer Gottgeweihter war, und deshalb hatte Er ihn mit Freude begrüßt. Rāmānanda Rāya aber erstaunte das Verhalten des Herrn, und so zitierte er einen Vers aus dem Śrīmad-Bhāgavatam, in dem gesagt wird, daß die großen Weisen und Heiligen manchmal im Hause eines weltlichen Mannes erscheinen, doch nur, um ihn mit ihrer Barmherzigkeit zu segnen.

Aus Śrī Caitanyas Verhalten gegenüber Rāmānanda Rāya geht deutlich hervor, daß der letztere im spirituellen Wissen und in der spirituellen Lebensweise weit fortgeschritten gewesen sein mußte, obwohl er nicht in einer Familie von brāhmaṇas geboren war. Aus diesem Grunde gebührte ihm weitaus mehr Respekt als jemandem, der zufällig in einer Familie von brāhmaṇas zur Welt gekommen ist. Rāmānanda Rāya betrachtete sich zwar in seiner Bescheidenheit als ṣūdra, doch Śrī Caitanya wußte, daß er sich in Wirklichkeit auf der höchsten Stufe der transzendentalen Hingabe befand. Der Gottgeweihte stellt sich niemals selbst in den Vordergrund, aber der Herr ist immer bestrebt, den Ruhm Seiner Geweihten zu verbreiten.

Śrī Caitanya und Rāmānanda Rāya sprachen bei diesem ersten Treffen nur kurz miteinander und beschlossen dann, noch am gleichen Abend erneut zusammenzukommen. Kurz nachdem Śrī Caitanya Sein abendliches Bad genommen hatte, kam Rāmānanda Rāya zusammen mit seinem Diener zu Ihm. Er brachte dem Herrn sogleich seine Ehrerbietungen dar und setzte sich dann nieder; doch bevor er Śrī Caitanya eine Frage über den Fortschritt im hingebungsvollen Dienen stellen konnte, bat der Herr ihn, einige Verse aus den Schriften zu zitieren, in denen etwas über das endgültige Ziel des Lebens erklärt werde.

Rāmānanda Rāya antwortete, ohne lange zu überlegen: »Jeder, der gewissenhaft seine vorgeschriebene Pflicht erfüllt, wird allmählich einen Geschmack am Gottesbewußtsein entwickeln.« Dann zitierte er einen Vers aus dem Viṣṇu Purāṇa, wo gesagt wird, daß man den Höchsten Herrn nur verehren kann, wenn man seinen vorgeschriebenen Pflichten nachkommt, denn das menschliche Leben ist eigens dazu bestimmt, daß man seine Beziehung zum Höchsten Herrn versteht und dementsprechend handelt. »Jeder Mensch«, so erklärte er, »kann beginnen, dem Herrn zu dienen, indem er einfach seine vorgeschriebenen Pflichten erfüllt. Um dies zu ermöglichen, ist die menschliche Gesellschaft in vier varṇas (Klassen) eingeteilt: 1) die intelligente Klasse, d. h. die Priester und Gelehrten (brāhmaṇas); 2) die verwaltende Klasse (kṣatriyas); 3) die Handel und Landwirtschaft betreibende Klasse (vaiṣyas); und 4) die Arbeiter und Handwerker (ṣūdras). Für jede dieser Einteilungen gibt es bestimmte Regeln, Regulierungen und Pflichten. Im Achtzehnten Kapitel der Bhagavad-gītā werden in den Versen 42-44 die Pflichten der vier varṇas näher erklärt. Zugleich muß sich die Gesellschaft auch nach den vier āṣramas richten, die für den spirituellen Fortschritt bestimmt sind. Unter āṣramas versteht man die verschiedenen Phasen im Leben eines Menschen. Vom 5. bis zum 25. Lebensjahr sollte er als brahmacārī (Lernender) leben, vom 25. bis zum 50. Lebensjahr als gṛhasta (Haushälter); mit 50 Jahren sollte er sich vom Familienleben zurückziehen (vānaprastha) und mit 60 Jahren in die Stufe der Entsagung eintreten (sannyāsa). Jede menschliche Gesellschaft, die als zivilisiert gelten will, muß diesem System des varṇāṣrama folgen.«

Rāmānanda Rāya sagte weiter: »Die Menschen, die strikt den Regeln und Vorschriften dieser acht Einteilungen folgen, haben bereits die Vollkommenheit erreicht, denn sie erfreuen mit ihrem Tun den Höchsten Herrn. Wer dagegen diese Prinzipien mißachtet, vergibt leichtfertig die Chance, die ihm die menschliche Form des Lebens bietet; dies führt dazu, daß er auf bestem Wege in die Hölle hinabgleitet. Es ist im Grunde jedoch ganz einfach, das Ziel des menschlichen Lebens zu erreichen, wenn man nach den vorgeschriebenen Regeln handelt, und durch das Befolgen der regulierenden Prinzipien, die sich nach Geburt, Umgang und Erziehung richten, kann sich der wirkliche Charakter eines Menschen entwickeln. Die Einteilung der Gesellschaft ist so beschaffen, daß Menschen der unterschiedlichsten Charaktere die Möglichkeit haben, ein reguliertes Leben nach den Schriften zu führen, so daß sie gemeinsam in Frieden leben und dabei spirituellen Fortschritt machen können.

Die vier gesellschaftlichen Gruppen unterscheiden sich folgendermaßen: 1) die brāhmaṇas haben es sich zum Ziel des Lebens gemacht, die Absolute Wahrheit, den Persönlichen Gott, zu erkennen, und studieren deshalb die offenbarten Schriften wie die Veden und Upaniṣaden; 2) die kṣatriyas haben die Aufgabe, den Staat zu verwalten und die Bürger zu beschützen; 3) die vaiṣyas bebauen das Land, züchten Kühe, treiben Handel und machen Geschäfte, und 4) die ṣūdras, die über keine besondere Intelligenz oder Bildung verfügen, sind damit zufrieden, den anderen varṇas alle möglichen Dienste zu leisten. Wenn man mit Vertrauen seine vorgeschriebenen Pflichten erfüllt, wird man mit Sicherheit Fortschritte machen. Deshalb ist ein reguliertes Leben der sicherste Weg zur Vollkommenheit.« Rāmānanda Rāya vergaß bei seiner Antwort jedoch ganz, daß ein reguliertes Leben erst dann vollkommen wird, wenn es im hingebungsvollen Dienst für den Herrn gipfelt. Andernfalls ist es reine Zeitverschwendung. Als Śrī Caitanya die Erklärungen Rāmānandas vernommen hatte, entgegnete Er, daß all diese Regeln und Vorschriften lediglich Äußerlichkeiten seien. Damit forderte Er ihn indirekt auf, über etwas Höheres zu sprechen. Die formelle Ausübung von Ritualen oder religiösen Opferhandlungen hat wenig Sinn, solange man nicht die Stufe des hingebungsvollen Dienens erreicht. Viṣṇu ist nämlich nicht zufrieden, wenn man nur Rituale und Opfer vollzieht. Er ist erst dann wirklich erfreut, wenn ein Mensch beginnt, sich im hingebungsvollen Dienen zu beschäftigen.

Um seine Erklärung zu rechtfertigen, zitierte Rāmānanda Rāya einen Vers aus der Bhagavad-gītā, in dem Śrī Kṛṣṇa sagt, daß der Mensch die höchste Vollkommenheit des Lebens erreichen kann, wenn er den Höchsten Herrn, den Ursprung alles Existierenden, durch die Erfüllung der vorgeschriebenen Pflichten verehrt. Diese Vollkommenheit im Befolgen der vorgeschriebenen Pflichten ist jedoch gottgeweihtes Dienen. Große Gottgeweihte wie Bodhyana, Janaka, Dramida, Guhadeva, Karpardi und Bharuchi folgten diesem Pfad, der in allen vedischen Schriften empfohlen wird. Deshalb erklärte Śrī Caitanya Rāmānanda Rāya, daß die bloße Pflichterfüllung nicht ausreiche, sondern die Pflichten nur äußerliche Hilfsmittel seien. Das heißt mit anderen Worten: Ein Mensch mit einer materialistischen Lebensauffassung kann niemals die höchste Vollkommenheit erreichen - selbst, wenn er alle Vorschriften und Rituale genau befolgt.

28. KAPITEL

Caitanya

Die Erhabenheit des hingebungsvollen Dienens

Śrī Caitanya lehnte den Vers, den Rāmānanda Rāya aus dem Viṣṇu Purāṇa zitiert hatte, vor allem deshalb ab, um Seine ablehnende Haltung gegenüber den sogenannten karma-mīmāṁsā-Philosophen deutlich zu machen. Die karma-mīmāṁsā-Philosophen glauben nämlich, Gott sei von guten oder schlechten Handeln der Menschen abhängig. Ihrer Ansicht nach ist Gott verpflichtet, einen frommen Menschen, der nach bestem Vermögen seine Pflicht tut, zu belohnen, und daher behaupten sie zuweilen auch, der Vers, den Rāmānanda Rāya anführte, sei ein Beweis dafür, daß Viṣṇu, der Höchste Herr, nicht unabhängig sei. Nach ihrer Vorstellung ist ein solcher »abhängiger Höchster Gott« Seinen Verehrern untergeordnet, die Ihn nach Belieben als persönlich oder unpersönlich betrachten können. Die meisten von ihnen ziehen den unpersönlichen Aspekt vor.

Śrī Caitanya verabscheute diese unpersönliche Auffassung von der Absoluten Wahrheit und ließ deshalb die Erklärung Rāmānanda Rāyas nicht gelten. Er sprach also: »Bitte sage mir, ob du noch ein höheres Verständnis von der Höchsten Absoluten Wahrheit kennst.« Rāmānanda Rāya entgegnete darauf, es sei besser, die Ergebnisse der gewinnbringenden Handlungen aufzugeben, als lediglich seine vorgeschriebenen Pflichten zu erfüllen. Rāmānanda Rāya glaubte zu wissen, worauf Śrī Caitanya hinaus wollte, und zitierte deshalb den 27. Vers aus dem Neunten Kapitel der Śrīmad-Bhagavad-gītā, in dem der Höchste sagt: »O Sohn Kuntīs, alles, was du tust, alles, was du ißt, alles, was du opferst und fortgibst, sowie alle Bußen, die du dir auferlegst, sollten Mir als Opfer dargebracht werden.« Im Śrīmad-Bhāgavatam findet man im 2. Kapitel des Elften Cantos einen ähnlichen Vers, wo gesagt wird, daß man die Ergebnisse aller Taten, die man mit Körper, Worten, Geist, Sinnen, Intelligenz und der Seele entsprechend der Erscheinungsweisen, unter deren Einfluß man steht, verrichtet, dem Höchsten Persönlichen Gott Nārāyaṇa hingeben soll.

Doch Śrī Caitanya lehnte auch diese Antwort Rāmānanda Rāyas ab, und forderte ihn erneut auf: »Wenn du noch etwas Höheres weißt, sag es Mir bitte.« Die Anweisungen in der Bhagavad-gītā und im Śrīmad-Bhāgavatam, die uns nahelegen, alles zur Freude des Höchsten Persönlichen Gottes zu tun, befinden sich zwar auf einer weitaus höheren Stufe als die unpersönliche Auffassung vom Höchsten Herrn oder die Vorstellung, der Herr sei unseren Handlungen untergeordnet, jedoch wird auch in ihnen noch wenig von wirklicher Hingabe erwähnt. Solange der um materiellen Gewinn Bemühte keine geeigneten Unterweisungen erhält, die ihn von der irrtümlichen Identifizierung mit dem materiellen Körper befreien, muß er weiterhin in der materiellen Welt bleiben. In den oben erwähnten Versen wird ihm lediglich geraten, dem Höchsten Herrn die Ergebnisse seiner Arbeit hinzugeben; doch weil er damit immer noch nicht weiß, wie er der materiellen Verstrickung entkommen kann, wies Śrī Caitanya auch diesen Vorschlag zurück.

Rāmānanda Rāya sagte als nächstes, man solle alle Pflichten aufgeben und sich durch Entsagung zur transzendentalen Ebene erheben. Mit anderen Worten: Er schlug vor, sich vom weltlichen Leben gänzlich zurückzuziehen. Und um diese Aussage zu stützen, verwies er auf einen Vers im 11. Kapitel des Elften Cantos im Śrīmad-Bhāgavatam, wo der Herr sagt: »In den religiösen Schriften beschreibe und erkläre Ich die verschiedenen Rituale und Opferhandlungen, mit deren Hilfe man im hingebungsvollen Dienen verankert werden kann. Mir mit Liebe und Hingabe zu dienen bildet die höchste Vollkommenheit der Religiosität.« Und in der Bhagavad-gītā erklärt der Höchste im 66. Vers des Achtzehnten Kapitels: »Gib alle Arten von Religion auf und gib dich einfach Mir hin. Ich werde dich von allen sündhaften Reaktionen befreien. Fürchte Dich nicht. « Doch auch diese Antwort wurde von Śrī Caitanya nicht als das höchste Ziel des Menschen anerkannt, denn Entsagung allein ist nicht ausreichend. Man muß sich vielmehr einer positiven Beschäftigung zuwenden. Ohne in positiver Weise tätig zu sein, kann niemand die höchste Vollkommenheit erreichen. Im allgemeinen gibt es zwei Arten von Philosophen, die sich in Entsagung üben. Die ersten haben das Ziel, das sogenannte nirvāṇa zu erreichen, und die zweiten wollen in die unpersönliche Brahman-Ausstrahlung eingehen. Beide können sich nicht vorstellen, daß es noch etwas Höheres als ihre Ziele gibt, wie z. B. die unzähligen spirituellen Vaikuṇṭha-Planeten und die spirituellen Aktivitäten. Śrī Caitanya verwarf also auch diesen dritten Vorschlag.

Rāmānanda Rāya zitierte daraufhin den 54. Vers aus dem Achtzehnten Kapitel der Bhagavad-gītā, in dem der Herr sagt: »Wenn ein Mensch wirkliches Wissen erlangt und verwirklicht, daß er dem Wesen nach eins mit dem Brahman ist, wird er glückselig und frei von Klagen und Wünschen. Sowie er dann die höchste Stufe der Brahman-Verwirklichung erreicht, sieht er alle Lebewesen als spirituelle Teile des Höchsten und gelangt schließlich zur Ebene des hingebungsvollen Dienens.« Wie wir wissen, hatte Rāmānanda als erstes empfohlen, hingebungsvolles Dienen zu praktizieren und dabei auf die Früchte der Arbeit zu verzichten, doch hatte der Herr Sich nicht damit zufrieden gegeben. Deshalb fiel Rāmānanda Rāya nunmehr ein, daß es besser sei, hingebungsvolles Dienen in völligem Wissen und auf der Grundlage vollständiger spiritueller Erkenntnis zu praktizieren. Doch Śrī Caitanya lehnte auch dieses als Antwort ab, indem Er erklärte, daß selbst jemand, der in Brahman-Erkenntnis gründe und auf die Ergebnisse seines Tuns verzichte, immer noch nicht die spirituelle Welt und die spirituellen Aktivitäten verwirklicht habe. Obwohl ein Mensch, der das Brahman erkannt hat, von der materiellen Verunreinigung befreit ist, kann er doch noch nicht völlig rein sein, solange er keine spirituellen Aktivitäten ausführt. Die Brahman-Erkenntnis befindet sich immer noch auf der intellektuellen Ebene und ist daher nur künstlich. Das reine Lebewesen kann nicht als befreit betrachtet werden, solange es sich nicht seiner wesenseigenen Position bewußt ist und sich nicht in spirituellen Aktivitäten beschäftigt. Wenn es über das unpersönliche Absolute oder das sogenannte »Nichts« meditiert, kann es nicht in sein ewiges Leben voller Glückseligkeit und Wissen zurückkehren.

Solange ein Mensch nicht völlig selbstverwirklicht ist, wird er sich immer von anderen daran hindern lassen, sich aller materieller Gedanken zu entledigen. Selbst den Anhängern der Unpersönlichkeitslehre fällt es sehr schwer, den Geist durch künstliche Meditation zu »leeren«. Es ist also durchaus nicht leicht, von allen materiellen Vorstellungen frei zu werden. In der Bhagavad-gītā wird in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, daß es für diejenigen, die sich mit dem »Nichts« oder dem unpersönlichen Aspekt des Absoluten befassen, äußerst schwierig ist, spirituelle Fortschritte zu machen, und daß sie am Ende nicht die vollkommene Befreiung erlangen. Aus diesem Grund also lehnte Śrī Caitanya auch diesen Vorschlag ab.

Rāmānanda Rāya sagte schließlich, hingebungsvolles Dienen ohne jegliches Bestreben, Wissen zu entwickeln oder intellektuelle Spekulationen anzustellen, bilde die höchste Stufe der Vollkommenheit. Dazu zitierte er einen Vers aus dem 14. Kapitel des Zehnten Cantos des Śrīmad-Bhāgavatam, wo Brahmā zum Höchsten Persönlichen Gott sagt: »Mein lieber Herr, man sollte alle monistischen Spekulationen und alles Streben nach Wissen aufgeben und sich statt dessen dem spirituellen Leben im hingebungsvollen Dienen zuwenden, indem man von einem selbstverwirklichten Gottgeweihten über Deine transzendentalen Spiele hört. Wenn man sich bemüht, spirituelle Fortschritte zu machen, indem man diesen beiden Prinzipien folgt und immer ein rechtschaffenes Leben führt, kann man Dich erobern, obwohl Du eigentlich unbezwingbar bist.« Dieser Antwort stimmte Śrī Caitanya freudig zu und sagte: »Ja, du hast recht. Im gegenwärtigen Zeitalter kann man weder durch Entsagung noch durch materiell motiviertes Gottdienen, noch durch Verzicht auf die Ergebnisse im vermischten Gottdienen, noch durch die Entwicklung von Wissen wirkliche spirituelle Erkenntnis erlangen. Weil die Menschen in der heutigen Zeit nicht sehr fortgeschritten, sondern in den meisten Fällen sogar sehr tief gefallen sind, und weil ihre Lebenszeit nicht ausreicht, durch einen allmählichen Vorgang auf eine höhere Ebene zu gelangen, ist es das beste, sie in ihrer jeweiligen Position zu lassen und ihnen die Gelegenheit zu geben, über die transzendentalen Taten und Spiele des Herrn zu hören, die in der Bhagavad-gītā und im Śrīmad-Bhāgavatam beschrieben werden. Die Menschen sollten diese Botschaften jedoch nur von selbstverwirklichten Seelen hören. Auf diese Weise können sie in ihren jeweiligen Positionen bleiben und dennoch ohne weiteres spirituelle Fortschritte machen, so daß sie sich schließlich dem Höchsten Persönlichen Gott völlig hingeben und Ihm dienen.«

Śrī Caitanya stimmte Rāmānanda Rāyas letzter Antwort zwar zu, doch bat Er ihn, noch einen Schritt weiter zu gehen und das hingebungsvolle Dienen auf der fortgeschrittenen Stufe zu beschreiben. Śrī Caitanya gab Rāmānanda Rāya somit die Möglichkeit, nacheinander alle Stufen des spirituellen Lebens genau zu erklären. Rāmānanda Rāya hatte mit den Prinzipien des varṇāṣrama-dharma begonnen, war dann zum Verzicht auf die Ergebnisse der fruchtbringenden Werke übergegangen und hatte schließlich empfohlen, spirituelles Wissen zu erstreben. Śrī Caitanya hatte jedoch all diese Vorgänge abgelehnt, denn bei der Ausführung von reinem hingebungsvollen Dienen sind sie nur von geringem Nutzen. Künstliche Methoden, die einen nicht zur Selbstverwirklichung führen, kann man nicht als reines hingebungsvolles Dienen bezeichnen. Wirkliches reines hingebungsvolles Dienen unterscheidet sich von allen anderen transzendentalen Vorgängen, denn auf dieser höchsten Stufe der transzendentalen Aktivitäten gibt es keine materiellen Verlangen, keine gewinnbringenden Handlungen und keine Spekulationen mehr. Jeder, der die höchste Vollkommenheit erreicht hat, beschäftigt sich ganz einfach mit Liebe im reinen hingebungsvollen Dienen. Rāmānanda Rāya wußte, woran Śrī Caitanya dachte, als Er ihn bat, noch weiter als bis zum hingebungsvollen Dienen zu gehen, und sagte daher, reine Liebe zu Gott sei die höchste Vollkommenheit. Es gibt einen sehr schönen Vers im Padya-vali, der von Rāmānanda Rāya gedichtet wurde und der sich genau auf diese Wahrheit bezieht; er lautet: »Wenn jemand hungrig ist, kann er nur durch Essen und Trinken sein Verlangen stillen, und deshalb ist er erst wirklich erfreut, wenn man ihm etwas Eßbares anbietet. Ebenso gibt es viele Methoden, den Höchsten Herrn zu verehren, doch erst wenn sie von reiner Hingabe durchdrungen sind, können sie zu einer Quelle transzendentalen Glücks werden.« In einem anderen Vers schreibt Rāmānanda Rāya: »Es ist durchaus möglich, daß man selbst nach vielen Millionen von Geburten und Toden noch kein Verlangen nach hingebungsvollem Dienen entwickelt hat, doch wenn man dann auf irgendeine Weise den Wunsch verspürt, dem Herrn mit Hingabe zu dienen, wird dieser Wunsch in der Gemeinschaft eines reinen Gottgeweihten so stark, daß er alles andere bedeutungslos werden läßt. Man sollte sich daher mit allen Mitteln bemühen, ein starkes Verlangen danach zu entwickeln, im hingebungsvollen Dienen beschäftigt zu sein.« Rāmānanda Rāya erklärte in seinen Versen also sowohl das Vorstadium - die regulierenden Prinzipien - als auch die vollkommene Liebe zu Gott. Zu eben dieser höchsten Stufe der Liebe zu Gott hatte Śrī Caitanya ihn erheben wollen, damit er von dieser Ebene aus sprechen könne. Die weiteren Gespräche zwischen Rāmānanda Rāya und Śrī Caitanya hatten daher nur noch die Liebe zu Gott zum Thema.

Wenn die Liebe zu Gott sich zu persönlicher Zuneigung steigert, bezeichnet man sie als premā-bhakti. Vor dieser Stufe haben der Höchste Herr und der Gottgeweihte noch keine besondere Beziehung zueinander, doch wenn sich diese premā-bhakti entwickelt, entstehen aus ihr die verschiedenen Beziehungen zum Höchsten Herrn. Die erste Beziehung wird dāsya-rasa genannt. In dieser Beziehung ist der Höchste Herr der Meister und der Gottgeweihte der Diener. Als Śrī Caitanya diesen Erklärungen zustimmte, erläuterte Rāmānanda Rāya die Beziehung zwischen dem Diener und dem Meister etwas ausführlicher. Dazu erzählte er eine Geschichte aus dem Śrīmad-Bhāgavatam (5. Kapitel, Neunter Canto), in der beschrieben wird, wie Durvāsā Muni, ein mächtiger mystischer yogī, der sich für sehr fortgeschritten hielt, Mahārāja Ambarīṣa um dessen Ruhm als der größte Gottgeweihte seiner Zeit beneidete und deshalb versuchte, ihn zu vernichten. Doch stürzte ihn dieses Vergehen ins eigene Verderben, und er wurde schließlich durch den sudarṣana-cakra, eine Waffe des Herrn, bezwungen. Der yogī gestand seinen Fehler ein und sagte: »Für die reinen Gottgeweihten, die liebevoll im transzendentalen Dienst für den Herrn beschäftigt sind, ist nichts unmöglich, denn sie sind die Diener des Höchsten Persönlichen Gottes, dessen Name schon mächtig genug ist, Befreiung zu gewähren.«

Śrīla Yamunācārya schrieb in seinem Buch Strotraratna folgenden schönen Vers: »Mein lieber Herr, Menschen, die Dir nicht dienen wollen, sind hilflos. Sie handeln auf eigene Gefahr, und ohne die Hilfe einer höheren Macht. Ich sehne daher die Zeit herbei, da ich völlig in Deinem transzendentalen liebevollen Dienst beschäftigt sein werde und kein Verlangen mehr nach materieller Sinnenfreude und intellektuellen Gedankenspielereien habe. Nur wenn ich Dir mit Hingabe diene, werde ich die Freude wirklichen spirituellen Lebens erfahren können.«

Als der Herr diese Worte Rāmānanda Rāyas vernommen hatte, bat Er ihn, trotzdem noch einen Schritt weiter zu gehen.

Weiter zum nächsten Kapitel » Die transzendentale Beziehung zwischen Rādhā und Kṛṣṇa